Die Geburt Europas im Mittelalter
uns klarmachen,dass die ethnischen und kulturellen Vermischungen nicht auf ein Zusammentreffen zwischen Völkern des alten Römischen Reichs und eindringenden Barbaren beschränkt waren. Auch unter den Invasoren hat es Umgruppierungen, neue Zusammenschlüsse versprengter Stämme und Völker gegeben. Es handelt sich um eine vollständige, weite und tief greifende Umgestaltung diesseits wie jenseits des alten
Limes.
Daraus gingen nicht nur neue Mischvölker hervor, sondern es bildeten sich auch unter den Barbaren neue ethnische Gruppen oder gar größere Verbände, die im zeitgenössischen Latein
nationes
genannt wurden. Von Anfang an setzte sich bei der Geburt Europas in diesem großen Schmelztiegel die Dialektik der Einheit und der Vielfalt, der Christenheit und der Nationen durch, die bis heute einer der Grundzüge Europas ist.
Der hier beschriebenen Periode des Römischen Reichs, in der sich während des 2. und 3. Jahrhunderts auf beiden Seiten des Limes erste Amalgame von Barbaren und Römern herausgebildet hatten, folgte in Wellen bis zum 11. Jahrhundert der Einzug der neuen, so genannten Barbarenvölker.
Invasionen und Akkulturation
Eine erste große Welle erfolgte am Ende des 3. Jahrhunderts, aber die massenhafte Ansiedlung der Germanen im Römischen Reich begann erst mit dem allgemeinen Vorrücken der germanischen Völker nach Italien, Gallien, dann Spanien in den Jahren 406 bis 407 und der Einnahme Roms durch Alarich 410. Wie Peter Brown in seinem Buch
Die Entstehung des christlichen Europa
schreibt, brach die militärische Grenze des Römischen Reichs im 5. Jahrhundert überall in Westeuropa zusammen. Um sich eine Vorstellung von den großen Umwälzungen dieses Jahrhunderts im europäischen Raum zu machen, empfiehlt er die Lektüre einer ungewöhnlichen Quelle: der
Vita
eines heiligen Mannes, Severinus, der diese Ereignisse an der mittleren Donaugrenze im später österreichischen Noricum erlebt hat und, so heißt es bei Brown, «ein Heiliger der offenen Grenze» war. Brown zufolge erkennt man hier die Implosion der Reiche von Römern und Barbaren, die neue kulturelle und soziale Einheiten bilden.[ 3 ]
Der Vorstoß der Germanen setzt sich während des 5. und 6. Jahrhunderts fort, nach dem Einzug der Ostgermanen, der West- und Ostgoten, und dem Ansturm der Sueben, Vandalen und Alanen, die den Rhein Anfang des 5. Jahrhunderts überschreiten, während die Burgunder, die Franken und die Alamannen langsam den Westen und den Süden Galliens einnehmen. Im Norden kommen Jüten, Angeln und Sachsen über das Meer, was den Rückzug der Bretonen von Britannien ins äußerst westliche Gallien beschleunigt. Die letzte germanische Eroberung auf dem alten Reichsgebiet ist schließlich die der Langobarden, die in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts nach Italien eindringen. An ihrer Stelle siedeln sich östlich des Rheins Sachsen, Friesen, Thüringer und Bayern an. Im 7. Jahrhundert beginnt die massive Wanderung der Slawen, die sich vor allem im Osten niederlassen, aber auch nach Westen drängen, in Richtung Baltikum und zur Elbe, nach Mitteleuropa, in die böhmischen Mittelgebirge und schließlich nach Südwesten, in den Norden des Balkans. Diese Invasionen hätten zu einem großen Bruch zwischen den neuen Völkern führen können. Denn die meisten von ihnen waren zum Arianismus bekehrt worden, den die lateinischen Christen für eine Häresie hielten. Es scheint also, dass die Verdrängung des Arianismus und die Bekehrung der barbarischen Arianer zum orthodoxen Katholizismus dem künftigen Europa einen zusätzlichen Bruch erspart haben.
Einige Episoden haben diese Periode der Geburt Europas stark geprägt. So konnten die besonders gefürchteten Hunnen bis nach Gallien vordringen, wo ihr König, Attila – außer für die Ungarn eine Schreckensfigur in der Vorstellung der Europäer – in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern bei Troyes von dem Römer Aëtius besiegt wurde und sich zurückziehen musste. Von besonderer Bedeutung ist ferner die Bekehrung der Franken durch ihren König Chlodwig zwischen 497 und 507. Chlodwig und seine Nachfolger begründeten trotz des fränkischen Brauchs der Erbteilung unter den Söhnen des Königs ein Gesamtreich, das nach der Vertreibung der Westgoten in Richtung Spanien und der Einverleibung des Burgunderreichs ganz Gallien umfasste. Der Ostgote Theoderich der Große
(488–526) errichtete im nordöstlichen Italien um Ravenna ein kurzlebiges, aber glanzvolles
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