Die Geburt Europas im Mittelalter
Königreich und machteBoethius zu seinem Ratgeber. Die aus Gallien vertriebenen Westgoten gründeten ein ebenso angesehenes Königreich, in dessen Mittelpunkt Toledo stand. Man hat Europa als «Erbin des westgotischen Spanien» bezeichnet, aber dieses Erbe besteht vor allem im Werk des Isidor von Sevilla. Den Westgoten wurde auch ein unheilvolleres Vermächtnis zugeschrieben: Die von den westgotischen Königen und Konzilien erlassenen Maßnahmen gegen die Juden konnten als der Ursprung des europäischen Antisemitismus angesehen werden.
Ein Beispiel soll zeigen, dass es nicht übertrieben ist, das Netzwerk der neuen Beziehungen unter das Zeichen Europas zu stellen. Im Jahr 658 starb die Äbtissin Gertrud von Nivelles, nahe dem heutigen Brüssel, am Fest des hl. Patricius. Dieser Heilige und spätere Patron der Iren hatte sich bereits als einer der großen Heiligen des Nordens etabliert. In der
Vita
der hl. Gertrud heißt es, die Äbtissin sei «allen Bewohnern Europas wohlbekannt» gewesen. So bestand zumindest in der geistlichen Schicht dieser eben christlich gewordenen Gesellschaften das Gefühl, einer Welt anzugehören, die schon damals mit dem Namen Europa bezeichnet wurde. An diesem Text lässt sich auch ein gewichtiges Ereignis ablesen, das die wesentlichen Probleme der europäischen Einheit bis heute prägt. Der politische und kulturelle Schwerpunkt des Weströmischen Reichs hatte sich vom Mittelmeer über die Alpen nach Norden verschoben. Der beispielhafte Gregor der Große hatte seinen Blick auf Canterbury gerichtet. Der mächtigste zum Christentum übergetretene Barbarenkönig, Chlodwig, hatte Paris im Norden Galliens zu seiner Hauptstadt erwählt. Die angelsächsischen und mehr noch die irischen Klöster waren hervorragende Ausbildungsstätten für Missionare, die als Prediger auf den Kontinent gingen – wie der hl. Columban (genannt «der Jüngere», 543–615), der erst das Kloster Luxeuil im Osten Galliens, dann Bobbio in Norditalien gründete, während sein Schüler, der hl. Gallus, den Grundstein für das nach ihm benannte Kloster St. Gallen in der heutigen Schweiz legte.
Diese Schwerpunktverschiebung nach Norden hatte auch und vor allem mit zwei Entwicklungen zu tun, die sehr auf der Geschichte Europas lasten sollten. Die erste ist der Prestigeverlust des Bischofs von Rom, einhergehend mit den Bedrohungender Stadt durch die Barbaren, von den Goten bis zu den Langobarden. Byzanz erkannte die Vormachtstellung des Bischofs von Rom nicht mehr an. Rom wurde geographisch und politisch an den Rand gedrängt. Die andere ist der Siegeszug der Muslime. Nach dem Tod Mohammeds im Jahr 632 hatten sich die zum Islam bekehrten Araber blitzartig die Arabische Halbinsel, den Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika, von Ägypten bis Marokko, unterworfen. Von dort setzten sie – für Raubzüge oder für Eroberungen? – ans andere Ufer des Mittelmeers über. Die islamisierten Berber aus Nordafrika nahmen zwischen 711 und 719 den größten Teil der Iberischen Halbinsel ein. Zu Beginn des 9. Jahrhunderts besetzten sie die alten römischen Inseln Korsika, Sardinien, Sizilien und Kreta.
Diese geographische Neuordnung hat nicht nur einen Gegensatz zwischen dem Norden und dem mediterranen Süden Europas geschaffen, sie zeigt auch, welches Gewicht nun den Peripherien im neuen christlichen Europa zukam. Zum keltischen Randgebiet kommt das angelsächsische hinzu, und bald das normannische, skandinavische und slawische. Das Mittelmeer sollte wieder als eine Art große Grenze in Erscheinung treten, die Front der christlichen Rückeroberung und der Beziehungen zu den Muslimen.
Ein für das Christentum schmerzliches Ereignis schließlich könnte Europa zugute gekommen sein. Nordafrika, das dank Tertullian und besonders Augustinus eines der wichtigsten Zentren des Christentums innerhalb des Römischen Reichs geworden war, wurde von den Vandalen überrannt – Augustinus starb 430 in Hippo Regius, während sie die Stadt belagerten. Vor allem aber wurde die dortige christliche Zivilisation im 7. Jahrhundert durch die muslimische Eroberung zerstört und ausgerottet. Europa hatte von Afrika, das in den theologischen Auseinandersetzungen einen so herausragenden Platz eingenommen und sich im Kampf gegen die Häresien, insbesondere den Donatismus, als Vorreiter gezeigt hatte, keine Konkurrenz mehr zu befürchten.
Bischofsherrschaft und Mönchtum
Abgesehen von den ersten Ansätzen zur Nationenbildung auf der Grundlage der alten
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