Die Geheimnisse der Patricia Vanhelsing
vorwärts, direkt in den grauen Nebel hinein. Es dauerte nicht lange und es war nichts mehr von ihm zu sehen.
Der Nebel schien ihn verschluckt zu haben.
*
In den Schränken unserer Zimmer fanden wir Kleidung, die der hiesigen Jahreszeit etwas angemessener waren, als das, was wir am Leib getragen hatten.
Tom trug einen Anzug aus dickem Tweed.
Ich zog mir keines der kunstvoll gearbeiteten Kleider an, die im Schrank meines Zimmers zu finden waren, sondern bediente mich ebenfalls bei jenen Sachen, die Tom zum Gebrauch gegeben worden waren. Ich fand in seinem Schrank eine Reiterhose aus Drillich, ein Hemd und eine warme Jacke. Diese Sachen waren einfach praktischer als das, was bei den Damen von Delancie Castle ansonsten üblich war.
"Ich frage mich, was Willards Auftreten hier zu bedeuten hatte", sagte Tom. "Das was er getan hat, war alles andere als freundlich gegenüber Lady Mary. Sie scheint also nicht alles kontrollieren zu können, was hier vor sich geht..."
"Was war er?", fragte ich. "Der Geist eines Toten?"
"Vielleicht. Jedenfalls müssen wir ihn finden. Überhaupt kann es nicht schaden, wenn wir dieses Gemäuer verlassen und die Umgebung erkunden..."
Allein schon der Gedanke ließ mich schaudern.
"Was glaubst du, was wir dort draußen finden werden? Die uns vertrauten Außenbezirke Londons?"
Tom atmete tief durch.
"Ich weiß es nicht", bekannte er. "Aber hier wie ein Gefangener auszuharren widerstrebt mir..."
*
Auf dem Flur begegneten wir dem Butler. Unser Aufzug sorgte für keinerlei Reaktion in seinem Gesicht. Er musterte uns kühl und regungslos.
"Lady Mary wünscht Sie zu sehen, Lord Millroy."
"Dann wird Sie etwas auf mich warten müssen", erwiderte Tom. "Haben Sie den Reiter gesehen, der sich vorhin vor dem Portal befand?"
"Welchen Reiter?"
Tom achtete nicht weiter auf den Butler. Er ging an ihm vorbei. Ich folgte ihm. Der Butler lief etwas irritiert hinter uns her. "Wovon sprechen Sie, Sir!"
"Ich werde es Ihnen zeigen!", versprach Tom. Wir gelangten nach kurzer Zeit in die Eingangshalle von Delancie Castle.
Tom wandte sich mit schnellen Schritten der zweiflügeligen Tür zu. Er drehte die Klinke herum und öffnete sie. Ein Schwall eiskalter Luft wehte von draußen herein. Die warme Kleidung, die wir jetzt trugen, durchschnitt sie wie ein Messer. Ich folgte Tom hinaus auf die Stufen des Portals. Wie eine graue Wand umgab der Nebel dieses seltsame Schloss. Die Komturen der Umgebung waren nur als geisterhafte Schatten erkennbar. Dicke Schwaden krochen jetzt wie formlose, vielarmige Ungeheuer über die dunkle
Wasseroberfläche des Teichs, aus dem ich jenes Monstrum hatte hervorkommen sehen, dass mich zu töten versucht hatte. Ich zitterte leicht, als ich hinaus auf das Portal trat.
"Halt!", rief der Butler.
Seine Stimme klang gar nicht mehr so kalt und beherrscht wie bisher. So etwas wie Panik mischte sich in seinen Tonfall hinein.
Tom hatte bereits die ersten Stufen hinter sich gelassen. Er stieg weiter hinab und bückte sich.
Die Schlinge!
Sie lag auf den kalten Stufen - genau dort, wo der Reiter sie hingeschleudert hatte.
Tom griff nach ihr, versuchte sie hochzuheben, aber als er sie zu fassen versuchte, zerfiel sie unter seiner Hand zu Staub.
Als feines, grauweißes Pulver wurde sie vom Wind verstreut. Tom erhob sich.
Er sah mich an.
"Was ist das nur für ein Ort?", murmelte er. "Es kann weder die Vergangenheit, noch die Gegenwart sein..." Der Butler verzog keine Miene.
*
"Das Frühstück ist gedeckt. Wenn Sie mir bitte ins Esszimmer folgen würden...", sagte der Butler.
Mir knurrte tatsächlich der Magen. Und Tom konnte es kaum anders ergehen.
Außerdem nahm ich mir vor, Lady Mary nach ihrem Bruder Willard Delancie zu fragen.
Ich war auf ihre Antwort gespannt.
Im Esszimmer fanden wir eine lange Tafel vor. Gut zwei Dutzend Personen hatten daran platzgenommen. Ich erkannte die Gäste vom Vorabend wieder, die auf Delancie Castle so etwas wie eine zweite Heimat gefunden zu haben schienen. Die Gespräche verstummten augenblicklich, als wir den Raum betraten. Bleiche Gesichter wandten sich uns zu. Mir fröstelte innerlich, trotz der warme Sachen, die ich jetzt trug.
Lady Mary hatte am Ende der Tafel platzgenommen. In ihren Augen blitzte es, als sie mich ansah. Ein Blick, so hasserfüllt, dass einem schaudern konnte. Und wieder spürte ich das Pochen hinter den Schläfen. Diesen unheimlichen Druck ihrer geistigen Kraft.
Dostan Radvanyi, der Pianist,
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