Die Geheimnisse der Patricia Vanhelsing
Ufer bewegte sich etwas.
Ein Kaiman schob sich ins Wasser und ließ sich dann von der Strömung treiben. Wenn man nicht genau hinsah, hätte man das langgezogen wirkende, schlanke Krokodil für ein Stück Treibholz halten können. Ein Trugschluss, den sicher schon so manches Beutetier mit dem Leben bezahlt hatte.
Was ist passiert?, dachte Tom.
"Warum sind Sie alle auf den Beinen?", erkundigte sich Tom dann.
"Saranho meinte, das Geräusch eines Bootsmotors gehört zu haben...", erläuterte Eduardo.
Tom hob die Augenbrauen.
"Sie meinen..."
"... dass uns dieser Baiano und seine Leute vielleicht einen unangemeldeten Besuch machen, ja!"
"Die haben uns gerade noch gefehlt."
Eduardo zuckte die Schultern. "Vielleicht haben wir uns auch getäuscht...."
"So schnell täusche ich mich nicht!", widersprach Saranho von der anderen Seite der AMAZONAS QUEEN her. "Da war ein Boot, das steht hundertprozentig fest!"
Eduardo starrte hinaus in die Dunkelheit. Der Kaiman schwamm weiter flussabwärts und verschwand jetzt in einem großen Schatten, der das Mondlicht verdeckte. "Manchmal hört Saranho auch das Gras wachsen", knurrte er.
"Wir müssen meine Kollegin finden!", forderte Tom und stellte sich neben Eduardo an die Reling. Dieser sah ihn erstaunt an.
"Sie ist an Bord, Senhor! Beruhigen Sie sich! Sie kann nirgendwo anders sein."
Tom atmete tief durch.
"Ich hoffe, Sie haben recht!"
"Ich verstehe, dass Sie diese Frau lieben, Senhor. Aber ist das ein Grund, gleich in Panik zu verfallen?"
"Helfen Sie mir!", forderte Tom.
"Wobei?"
"Jeden Winkel der AMAZONAS QUEEN nach ihr zu durchsuchen!"
"Sie tun ja gerade so, als..."
"Reden Sie nicht lange und kommen Sie!"
Im nächsten Moment erstarrten alle an Deck.
In der Ferne war wieder das Geräusch eines Bootsmotors zu hören. Ganz deutlich. Es konnte keinen Zweifel geben.
Eduardo griff unwillkürlich zu der Waffe, die er hinterm Gürtel stecken hatte. Er prüfte die Ladung der Revolvertrommel.
"Baiano!", knurrte er.
*
LIES DIE ZEICHEN! LASS SIE ERZÄHLEN...
Die Gedankenstimme dröhnte in meinem Kopf. Ich fasste mir an die Schläfen und starrte auf die Formen aus Licht und Dunkelheit, die sich an den marmorartigen Wänden abzeichneten.
Bilder erschienen in rascher Folge vor meinem inneren Auge.
Gedanken.
Ein Gesicht.
Ich kannte es gut und erschrak eine Augenblick.
Onkel Frederik!
Ich sah ihn so, wie ich ihn vor fast zwanzig Jahren in Erinnerung hatte, als er zu seiner letzten Reise aufgebrochen war.
"Er war hier!", stellte ich fest. "Ich habe es gewusst."
DU KENNST IHN?
"Ja. Was ist mit ihm geschehen?"
FOLGE MIR.
"Wohin?"
DU WIRST SEHEN.
Ich zögerte. "Ich weiß noch immer nicht, weshalb auch du ein Verbannter bist, Rama'ymuh", stellte ich fest.
NEIN? DU HÄTTEST DIE ZEICHEN RICHTIG LESEN SOLLEN...
Ich starrte an die marmorglatten Wände. Aber die Zeichen hatten sich verändert. Die ersten Sonnenstrahlen schimmerten hinter den Baumkronen hervor. Der Mond würde bald nicht mehr zu sehen sein.
FOLGE MIR!, wiederholte die Gedankenstimme Rama'ymuhs.
"Dies ist kein Traum, nicht wahr?", flüsterte ich.
NEIN.
Ich schluckte.
Er ist es, der die Situation beherrscht!, ging es mir durch den Kopf. Auch, wenn mich der Bringer der Kälte jetzt nicht mehr in seinem magischen Bann hielt, so bestimmte er doch trotzdem jeden Schritt den ich tat.
Die Kreatur wandte sich zum Gehen und marschierte mit langsamen, aber bestimmt wirkenden Schritten direkt auf einen der Gänge zu, die ins Innere der Steinquader führten.
Mein Blick blieb an dem steinernen Hexagon hängen. Es leuchtete jetzt nicht mehr so stark. Aus dem weißen Licht war nicht mehr als ein grauweißer Schimmer geworden. Die Helligkeit war nicht gleichbleibend. Die Intensität wechselte, so dass man den Eindruck hatte, dass der Stein pulsierte.
Wie ein Herz!, durchfuhr es mich.
"Cayamu ist auf seine Welt der Doppelsonne verbannt. Aber wo sind die anderen Mächtigen? Du bist allein im Haus der Götter, nicht wahr?"
Rama'ymuh blieb stehen, wandte den Schlangenkopf, dessen schuppigen, tierhaften Zügen nicht die geringste Regung anzusehen war. Zumindest nicht für menschliche Augen.
JA, ICH BIN ALLEIN. KOMM JETZT.
Diesmal verließ er sich nicht allein auf die Überzeugungskraft seiner Gedankenimpulse.
Mein Körper bewegte sich wieder unter dem Zwang seiner mentalen Kräfte. Wie eine willenlose Marionette wurde ich vorwärts gestoßen.
*
Das Boot näherte sich und schälte sich immer
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