Die Geheimnisse der Toten
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Priština, Kosovo – Gegenwart
An einem Freitagnachmittag der Arbeit entfliehen zu können war für Abby immer noch ein ungewohnter Luxus.
Zehn Jahre lang hatte sie von früh bis spät an den dunklen Stellen der Welt gearbeitet, hatte zugehört, wenn gebrochene Menschen von unvorstellbar brutalen Gewaltakten berichteten, und hatte abends dann in umgebauten Frachtcontainern, die je nach Jahreszeit unerträglich heiß oder kalt waren, diese Geschichten in ihren Laptop getippt, das Blut und die Tränen aus ihnen herausgewrungen, bis sie nur noch trockenes Papier waren, das am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als Zeugnis vorgelegt werden konnte. In dieser Zeit hatte sie nie entfliehen können. Sie hatte ihre Albträume zu zählen aufgehört oder die vielen Male, die sie spät in der Nacht vor der chemischen Toilette gekniet und versucht hatte, sich von den schrecklichen Dingen zu reinigen, die ihr zu Ohren gekommen waren. Zu dem, was sie über die Jahre hatte opfern müssen, zählten mehrere hoffnungsvolle Beziehungen, eine Ehe und schließlich sogar ihr Mitempfinden. Trotzdem war sie am nächsten Morgen immer wieder zur Stelle gewesen.
Dieser Abschnitt in ihrem Leben war nunmehr Geschichte. Man hatte sie in den Kosovo entsandt, wo sie im Rahmen der Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union, kurz EULEX, aus Kosovaren mustergültige Europäer machen sollte. Es war natürlich auch dort zu Kriegsverbrechen gekommen, doch darum kümmerten sich jetzt andere. Sie arbeitete mit den Zivilgerichten zusammen und versuchte, die verwickelten Fragen der Eigentumsrechte für die Nachkriegszeit zu klären. Michael nannte ihre Dienststelle das «Fundbüro». Seine Hänseleien machten ihr nichts aus. Sie konnte nachts wieder schlafen.
Abby sammelte ihre Akten ein, schloss sie weg und räumte den Schreibtisch für die Putzfrauen auf, die am Wochenende kommen würden. Feierabend . Sie wollte gerade ihren Computer ausschalten, als ihr der Eingang einer neuen E-Mail gemeldet wurde. Dass sie davon nicht Notiz nehmen musste, war ebenso ein Luxus. Sie würde sich am Montag damit befassen. Es war zwei Uhr am Mittag, ihre Arbeitswoche war beendet.
Draußen auf der Straße stand Michaels Wagen, ein Porsche Cabrio, Baujahr 1968, wahrscheinlich der einzige seiner Art auf dem Balkan. Obwohl Gewitterwolken aufgezogen waren, war das Verdeck heruntergeklappt. Michael ließ den Motor aufheulen, als Abby vor die Tür trat. Wäre sie nicht so glücklich gewesen, hätte sie sich für diese Angebergeste geschämt. Typisch Michael. Sie glitt auf den Beifahrersitz, gab Michael einen Kuss und spürte seine grau melierten Stoppeln auf der Haut. Leute kamen aus dem Haus und glotzten. Sie fragte sich, ob deren Neugier dem Wagen galt oder ihr. Michael war zwanzig Jahre älter als sie, was durchaus auffiel, doch das Alter stand ihm gut. Die Falten betonten seine angenehmen Seiten: sorglose Heiterkeit, Zuversicht und Stärke. Als seine Haare grau wurden, hatte er sich einen goldenen Ohrring zugelegt. Um keinen allzu respektablen Eindruck zu machen, sagte er. Abby fand, dass er wie ein Pirat aussah.
Er legte ihr eine Hand unters Kinn, hob ihren Kopf an und warf einen Blick auf den Hals. «Du trägst die Kette.»
Offenbar freute er sich darüber. Er hatte ihr die Kette vor einer Woche geschenkt, ein feingliedriges goldenes Gewebe mit fünf roten Glasperlen, in der Mitte ein frühchristliches Monogramm in der Form eines P mit einem Querstrich, obwohl Michael mit Religion eigentlich nichts am Hut hatte. Die Kette fühlte sich uralt an. Das dunkle Gold glänzte wie Honig, der rote Stein war angelaufen. Auf die Frage, woher die Kette stamme, hatte Michael schief gelächelt und gesagt, eine Roma habe sie ihm gegeben.
Den Kopf zur Seite gedreht, bemerkte sie aus den Augenwinkeln, dass ihre schwarze Reisetasche auf der Rückbank lag, gleich neben seinem Aktenkoffer.
«Wohin fahren wir?»
«Zur Bucht von Kotor. Montenegro.»
Sie verzog das Gesicht. «Aber das sind sechs Stunden bis dahin.»
«Nicht unbedingt.» Er scherte aus der Parklücke aus und passierte den Sicherheitsposten in seinem blauen Blazer und der Baseballkappe. Der Mann war sichtlich angetan von dem Wagen und salutierte zackig. Unter den vielen schlechten Fahrzeugen, die von der EU gestellt wurden, stach der Porsche wie der seltene Vertreter einer bedrohten Spezies hervor.
Michael löste eine Hand vom Steuer und griff nach einem Flachmann neben der
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