Die Geheimnisse der Toten
präzise, ohne jede Hast. Er hob die Pistole vom Boden auf, die er im Kampf mit Michael fallen gelassen hatte, prüfte den Schlitten und das Magazin, ließ die im Lauf steckende Patronenhülse auswerfen und lud neu durch.
Abby stand vom Boden auf, behindert durch das nasse Kleid, das an ihrem Körper klebte. Sie musste fliehen – aber wohin? Zum Wagen? Sie wusste nicht, wo Michael die Schüssel abgelegt hatte. Der fremde Mann kam mit erhobener Waffe auf sie zu. Abby sprang hinter die nächste Säule, als sich der Schuss löste. Stein splitterte, irgendetwas zerbarst krachend.
Geduckt rannte sie die Säulenreihe entlang, an den Skulpturen vorbei. Sie kam sich vor wie auf einem Schießstand, doch es fiel kein weiterer Schuss. War dem Eindringling die Munition ausgegangen?
Am Ende der Kolonnaden angekommen, blieb sie stehen, überragt von einem marmornen Jupiter, der einen Blitz in der Faust hielt. Schritte näherten sich langsam.
Mit Entsetzen wurde ihr klar, warum er seine Waffe nicht mehr auf sie abfeuerte. Sie hatte sich in eine Ecke abdrängen lassen, in der sie wie in einer Falle steckte. Sie kauerte sich hinter den Sockel einer Statue und hörte, wie der Mann stehen blieb.
Die Stille war schlimmer als alles andere.
«Was wollen Sie?», rief sie.
Eine Antwort blieb aus. Wasser tropfte von ihrem nassen Kleid und lief unter ihr zu einer Pfütze zusammen. Worauf wartet er?
Sie hatte geglaubt zu wissen, wie es war, den Tod vor Augen zu haben. Ihr waren in zahllosen Berichten solche Momente geschildert worden. Aber alle, die Zeugnis ablegen konnten, hatten schließlich doch überlebt. Manche hatten, als die Mörder kamen, fliehen können; andere hatten sich auf den Schlachtfeldern tot gestellt, stundenlang, während Familienangehörige und Nachbarn um sie herum starben.
Ihr blieb jetzt nur eine einzige Chance. Sie schnellte in die Höhe, warf sich mit voller Wucht gegen die Statue und stürzte die Gottheit vom Sockel. Der fremde Mann wich vor den fliegenden Scherben zurück und geriet ins Wanken.
Abby rannte los. Sie überquerte die Terrasse und hastete ins Haus. Auf dem riesigen Bildschirm waren die üblichen Szenen von Krieg und Rache zu sehen, fernab von dem realen Schrecken, dem sie ausgeliefert war.
Wohin?
Der Killer hatte sich offenbar wieder gefangen. Die erste Kugel ließ die Scheibe hinter ihr zerplatzen, die zweite traf ihre Schulter und wirbelte sie herum. Sie sah ihn durch das zerbrochene Fenster steigen, die Waffe auf sie gerichtet.
«Bitte», flehte sie. Sie wollte fliehen, fühlte sich aber wie gelähmt. «Warum tun Sie das?»
Der Mann zuckte mit den Achseln. Er hatte einen schwarzen Schnauzbart und ein behaartes Muttermal auf der rechten Wange. Seine Augen waren dunkel und hart.
Ihr letzter Gedanke galt einer Zeugin, die sie vor Jahren interviewt hatte, einer ergrauten Hutu-Frau, die in irgendeinem Dschungellager zwischen Kongo und Ruanda Getreide mahlte. «Sie haben nie aufgegeben», hatte Abby voller Bewunderung zu ihr gesagt, doch die Frau schüttelte den Kopf.
«Ich hatte einfach nur Glück. Im Unterschied zu den anderen.»
Der Mann hob die Pistole und drückte ab.
[zur Inhaltsübersicht]
2
Römische Provinz Moesia – August 337
Es ist noch August, aber schon hat der Herbst Einzug gehalten. Wie jeder alte Mann fürchte ich diese Jahreszeit. Schatten fallen, die Nächte werden länger, Messer blitzen. An Abenden wie diesem, wenn die kalte Luft meine alten Wunden quält, ziehe ich mich ins Badehaus zurück und lasse von meinen Sklaven Feuer machen. Das Becken ist leer. Trotzdem setze ich mich an den Rand und gieße Wasser über die heißen Steine. Der Dampf steigt mir in die Nase und tut meiner Haut gut. Vielleicht mache ich es so meinen Mördern, wenn sie kommen, leichter.
Ich bin bereit zum Sterben – es schreckt mich nicht. Mein Leben währt schon länger, als ich es verdient habe. Ich war Soldat, Höfling und Politiker. Keines dieser Ämter steht für Langlebigkeit. Wenn meine Mörder kommen – und ich weiß, dass sie kommen –, werden sie nicht zögern. Sie haben in diesen Tagen viel zu tun. Ich bin nicht der Letzte, den sie töten müssen. Foltern werden sie mich nicht, denn dazu fehlen ihnen die Fragen.
Sie haben keine Ahnung, was sie von mir erfahren könnten.
Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Ich habe mich nicht ausgezogen – nackt will ich nicht sterben –, und meine Kleider sind durchnässt. Ich gieße noch mehr Wasser ins Becken, beuge mich in
Weitere Kostenlose Bücher