Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Bücher waren mit einem lauten Krachen zu Boden gefallen, und der Fremde hatte sich gebückt und ihr beim Aufsammeln geholfen. Er hatte sie so missbilligend angeschaut, dass Joséphine einen Lachkrampf bekommen hatte. Sie hatte hinausgehen müssen, um sich zu beruhigen. Als sie wieder hereingekommen war, hatte er ihr verschmitzt zugezwinkert. Das hatte sie vollkommen durcheinandergebracht. Den ganzen Nachmittag hatte sie seinen Blick gesucht, aber er hatte nicht mehr von seinen Ordnern aufgeschaut. Und als sie irgendwann wieder zu ihm hinübergesehen hatte, war er fort.
Sie hatte ihn wiedergesehen, und er hatte ihr mit einem sanften Lächeln zugewinkt. Er war groß und sehr mager, das kastanienbraune Haar fiel ihm in die Augen, und seine Wangen waren so eingefallen,
dass es aussah, als zöge er sie ein. Ehe er sich setzte, hängte er sorgfältig seinen dunkelblauen Dufflecoat über die Stuhllehne, klopfte den Staub ab, strich ihn glatt und ließ sich anschließend wie ein Tänzer auf seinen Stuhl sinken, indem er die Lehne nach vorne drehte. Er hatte lange, dünne Beine. Jo stellte ihn sich als Stepptänzer vor. In eng anliegender schwarzer Hose, schwarzem Jackett und schwarzem Zylinder. Sein Gesicht veränderte sich häufig. Manchmal erschien er ihr schön und romantisch, dann wieder blass und melancholisch. Sie war sich niemals sicher, ihn wiederzuerkennen. Manchmal vergaß sie, wie er aussah, und musste mehrmals hinsehen, ehe sie ihn erkannte, wenn er leibhaftig vor ihr stand.
Sie hatte nicht gewagt, Shirley von dem jungen Mann zu erzählen. Sie hätte sich über sie lustig gemacht. »Du hättest ihn auf einen Kaffee einladen sollen, ihn nach seinem Namen fragen, herausfinden, wann er arbeitet! Du bist wirklich zu dumm.«
Jawohl … Ich bin zu dumm, was für eine Neuigkeit!, seufzte Joséphine, während sie auf ihrer Abrechnung herumkritzelte. Ich sehe alles, ich spüre alles, tausend Einzelheiten dringen wie Splitter in meinen Körper ein und häuten mich bei lebendigem Leib. Tausend Einzelheiten, die andere gar nicht bemerken, weil sie einen Panzer haben wie ein Krokodil.
Das Schwierigste war, sich nicht von der Panik überwältigen zu lassen. Die Panik kam immer nachts. Sie horchte, wie sie in ihrem Inneren anschwoll. Schlaflos wälzte sie sich auf ihrer Matratze hin und her. Die Raten für die Wohnung, die Nebenkosten, die Steuern, Hortenses hübsche Kleider, die laufenden Kosten für das Auto, die Versicherungen, die Telefonrechnungen, die Dauerkarte fürs Schwimmbad, den Urlaub, die Kinokarten, die Schuhe, die Zahnspangen … Sie rechnete die Ausgaben zusammen und wickelte sich mit weit aufgerissenen Augen ängstlich in ihre Decke, um nicht länger darüber nachdenken zu müssen. Manchmal wurde sie mitten in der Nacht wach, setzte sich auf und ging wieder und wieder ihre Abrechnungen durch, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass es einfach nicht reichen würde, obwohl die Zahlen doch tagsüber noch danach ausgesehen hatten! Panisch schaltete sie das Licht ein, holte den Zettel, auf dem sie ihre Einnahmen und Ausgaben aufgelistet hatte, und rechnete
erneut … bis sie schließlich wieder zur Besinnung kam und erschöpft das Licht löschte.
Sie fürchtete die Nächte.
Nun warf sie einen letzten Blick auf die mit Bleistift oder Rotstift markierten Zahlen und stellte beruhigt fest, dass sie – vorerst zumindest – stillhielten. Ihre Gedanken flogen zu dem Vortrag, den sie vorbereiten musste. Ein Absatz, den sie vor einiger Zeit gelesen hatte, kam ihr in den Sinn. Damals hatte sie gedacht, es könnte sinnvoll sein, ihn abzuschreiben und später zu verwenden. Sie machte sich auf die Suche nach der Notiz und fand die Stelle wieder. Sie beschloss, sie als Einstieg in ihren Vortrag zu benutzen: »Sämtliche Arbeiten zur französischen Wirtschaftsgeschichte heben die besondere Bedeutung der Zeit zwischen 1070 und 1130 hervor: In diese Jahre fallen sowohl die Gründung zahlloser ländlicher Marktflecken als auch die ersten Anzeichen für einen städtischen Aufschwung, sowohl das Vordringen des Geldes in den ländlichen Raum als auch die Entwicklung von Handelsbeziehungen zwischen den Städten. Gleichzeitig beobachtet man in dieser dynamischen, innovativen Phase jedoch auch eine offenbar systematische Ausbeutung der Bevölkerung durch die Grundherren. Wie also hat man sich den Zusammenhang zwischen diesen beiden Fakten vorzustellen? Wirtschaftlicher Aufschwung trotz der Feudalherrschaft oder dank dieses
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