Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Marot …«
»Danke. Ich sollte eigentlich erst um fünf Uhr liefern, aber dann rufen sie auf einmal an und sagen, ich soll schon um vier da sein, sonst kann ich mir meine Torten in den Allerwertesten schieben. Sie sind Großkunde, darum wissen sie ganz genau, dass ich brav nach ihrer Pfeife hüpfen werde …«
Wenn Shirley sich ärgerte, machte sie Fehler. Ansonsten sprach sie ein bemerkenswert gutes Französisch.
»Die Gesellschaft kümmert sich einen Dreck um die Menschen.
Sie stiehlt ihnen ihre Zeit, das Einzige, was die Leute überhaupt noch gratis zur freien Verfügung haben. Alle tun so, als müssten wir unsere besten Jahre auf dem Altar der Wirtschaft opfern. Aber was bleibt dann noch? Danach sind wir alt und haben noch ein paar mehr oder weniger traurige Jahre mit falschen Zähnen und Windeln vor uns! Du kannst mir nicht erzählen, dass da nicht was falsch läuft.«
»Wahrscheinlich schon, aber ich wüsste nicht, was wir dagegen tun könnten. Außer die Gesellschaft zu verändern. Aber das haben schon andere vor uns versucht, und die Resultate waren nicht gerade überzeugend. Wenn du diese Gesellschaft zum Teufel jagst, wenden sich die Leute einfach einer anderen zu. Und du verkaufst keine Torten mehr.«
»Ich weiß, ich weiß … Aber das Schimpfen tut mir gut! Es entspannt mich … Außerdem wird man ja wohl noch träumen dürfen.«
Ein Mofa schnitt Shirley den Weg ab, und sie stieß einen Schwall englischer Flüche aus.
»Zum Glück redete Audrey Hepburn nicht wie du! Sonst hätte ich beim Übersetzen ziemliche Probleme.«
»Woher willst du das wissen? Vielleicht hat sie ihrem Ärger auch manchmal Luft gemacht und einfach drauflos geflucht! Das steht nur nicht in ihrer Biografie.«
»Sie wirkt so perfekt, so gut erzogen. Ist dir aufgefallen, dass sie keine einzige Beziehung hatte, die nicht in einer Ehe endete?«
»Das steht vielleicht so in deinem Buch! Beim Dreh von Sabrina hatte sie was mit William Holden, und der war verheiratet.«
»Ja, aber sie hat ihm den Laufpass gegeben. Weil er ihr gestanden hat, dass er sich hatte sterilisieren lassen, und sie wollte jede Menge Kinder. Sie liebte Kinder. Ehe und Kinder …«
Genau wie ich, fügte Jo im Stillen hinzu.
»Bei dem, was sie in ihrer Jugend durchgemacht hat, ist es kein Wunder, dass sie von einem home, sweet home träumte …«
»Ach, hat dich das auch so überrascht? Das hätte ich dieser kleinen, zerbrechlichen Person niemals zugetraut.«
Im Alter von fünfzehn Jahren hatte Audrey Hepburn während des Zweiten Weltkriegs in den Niederlanden für den Widerstand gearbeitet. Sie überbrachte in ihren Schuhsohlen versteckte Nachrichten. Als sie eines Tages von einem ihrer Botengänge zurückkehrte, wurde
sie von den Nazis verhaftet und mit einem Dutzend weiterer Frauen zur Kommandantur gebracht. Es gelang ihr zu fliehen, und sie versteckte sich in einem Keller. In ihrer Schultasche hatte sie nur ein wenig Apfelsaft und ein Stück Brot. Einen ganzen Monat verbrachte sie dort in Gesellschaft einer Familie ausgehungerter Ratten. Das war im Frühjahr 1945, zwei Monate vor der Befreiung der Niederlande. Halbtot vor Hunger und Angst kam sie schließlich eines Nachts wieder nach draußen, irrte durch die Straßen und fand sich unvermittelt vor ihrem Haus wieder.
»Ich finde ja vor allem ihren Test des begehrenswertesten Mädchens der Welt großartig!«, ergänzte Jo.
»Was ist das denn?«
»Das war ein Test, den sie zu Beginn ihrer Karriere in England abends auf Partys durchführte. Sie hatte Minderwertigkeitskomplexe wegen ihrer großen Füße und ihres flachen Busens. Also stellte sie sich in eine Ecke und sagte sich immer wieder: ›Ich bin das begehrenswerteste Mädchen der Welt! Die Männer fallen vor mir auf die Knie, ich brauche mich nur zu bücken und sie aufzuheben.‹ Das wiederholte sie so oft, dass es tatsächlich funktionierte! Bevor der Abend zu Ende war, war sie von zahllosen Männern umringt.«
»Das solltest du auch mal versuchen.«
»Ach was, ich …«
»Das meine ich ernst … Du hast ein bisschen was von Audrey Hepburn.«
»Hör auf, dich über mich lustig zu machen.«
»Doch, doch … Du brauchst nur ein paar Kilo abzunehmen! Du hast schon die großen Füße, den kleinen Busen, die großen braunen Augen, die glatten braunen Haare.«
»Du bist gemein!«
»Ganz und gar nicht. Du kennst mich doch: Ich sage immer, was ich denke.«
Joséphine zögerte kurz, dann sprang sie ins kalte Wasser.
»Ich habe in der
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