Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Bibliothek einen Mann gesehen …«
Sie erzählte Shirley von ihrem Zusammenstoß, den heruntergefallenen Büchern, dem Lachkrampf und der spontanen Vertrautheit, die sich sofort zwischen ihr und dem Fremden entwickelt hatte.
»Wie sieht er denn aus?«
»Wie ein Langzeitstudent … Er trägt einen Dufflecoat. Kein Mann trägt einen Dufflecoat, es sei denn, er ist ein Langzeitstudent.«
»Oder ein Filmemacher, der in der Bibliothek recherchiert, ein verfrorener Forschungsreisender oder ein Historiker, der an einer Arbeit über die Schwester der Jungfrau von Orléans schreibt … Eigentlich könnte er alles Mögliche sein, weißt du.«
»Es war das erste Mal, dass ich einen Mann angeschaut habe, seit…«
Jo verstummte. Es fiel ihr immer noch schwer, über Antoines Auszug zu reden. Sie schluckte, ehe sie weitersprach.
»Seit Antoine fort ist …«
»Hast du ihn danach noch mal wiedergesehen?«
»Ein-, zweimal … Und er hat mich jedes Mal angelächelt. In der Bibliothek können wir nicht reden … Stattdessen sprechen unsere Blicke … Er ist so schön, er ist einfach wunderschön! Und so romantisch!«
Die Ampel wurde rot. Jo nutzte die Gelegenheit und zog ein Blatt Papier und einen Stift aus der Tasche.
»Erinnerst du dich an die Stelle, wo Audrey mit Gary Cooper dreht«, fragte sie, »und er so ein merkwürdiges Englisch spricht?«
»Er war ein echter Cowboy. Er stammte aus Montana. Er sagte nicht yes oder no , sonder yup und nope ! Dieser Mann, von dem Millionen Frauen träumten, sprach, als wäre er noch immer auf einer Farm. Und ich will dich ja nicht enttäuschen, aber er war ein ziemlich langweiliger Typ!«
»Er sagt auch: Am only in film because ah have a family and we all like to eat! Wie würdest du das denn in Cowboysprache übersetzen?«
Shirley kratzte sich am Kopf und ließ die Kupplung kommen. Sie drehte das Steuer nach rechts, dann wieder nach links, und nachdem sie zwei, drei andere Autofahrer beschimpft hatte, gelang es ihr, sich aus dem Stau zu befreien.
»Du könntest schreiben: ›Tja, ich mach Filme, weil ich Familie hab und wir alle was zu beißen brauchen …‹ Oder etwas in der Art! Sieh doch mal auf dem Plan nach, ob ich hier rechts abbiegen kann, da vorne ist alles dicht.«
»Kannst du … Aber danach musst du dich wieder links halten.«
»Keine Sorge, ich halte mich immer links. Das Herz sitzt links. Das ist meine Seite.«
Joséphine lächelte. In Shirleys Gegenwart wurde das Leben so bunt. Sie hielt sich nie mit dem äußeren Schein, mit Konventionen, mit Vorurteilen auf. Sie wusste ganz genau, was sie wollte; sie steuerte immer geradewegs auf ihr Ziel zu. Shirley zufolge war das Leben einfach. Die Art und Weise, wie sie Gary großzog, schockierte Joséphine manchmal. Sie sprach mit ihrem Sohn wie mit einem Erwachsenen. Sie verheimlichte ihm nichts. Sie hatte Gary erzählt, dass sich sein Vater bei seiner Geburt aus dem Staub gemacht hatte, und sie hatte ihm versprochen, ihm seinen Namen zu sagen, falls er sie eines Tages danach fragen sollte, damit er ihn suchen könne, wenn er das wolle. Sie hatte hinzugefügt, dass sie unsterblich in seinen Vater verliebt und er ein Wunschkind gewesen sei, das sie über alles liebe. Dass das Leben für Männer heutzutage nicht leicht sei, dass die Frauen viel von ihnen verlangten und dass ihre Schultern nicht immer breit genug seien, um das alles zu tragen. Darum zögen sie es manchmal vor, die Flucht zu ergreifen. Das schien Gary zu genügen.
Die Ferien verbrachte Shirley immer in Schottland. Sie wollte, dass Gary die Heimat seiner Vorfahren kennenlernte, fließend Englisch sprach und in eine fremde Kultur eintauchte. Dieses Jahr war Shirley nach ihrer Rückkehr bedrückt und schlecht gelaunt gewesen. »Nächstes Jahr fahren wir anderswohin …«, war alles, was sie sagte. Danach hatte sie diesen Urlaub nie wieder erwähnt.
»Woran denkst du?«, fragte Shirley.
»An deine geheimnisvolle Seite, an alles, was ich nicht über dich weiß…«
»Und das ist auch gut so! Alles über den anderen zu wissen ist langweilig.«
»Du hast recht … Aber manchmal wäre ich gern schon alt, weil ich mir denke, dass ich dann endlich wissen werde, wer ich selbst bin!«
»Meiner Meinung nach – aber das ist nur meine ganz persönliche Meinung – liegt dein Geheimnis in deiner Kindheit. Irgendetwas ist damals vorgefallen und hat dich blockiert … Ich frage mich oft, warum du dich selbst so gering schätzt, warum du so wenig
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