Die Geschichte eines schoenen Mädchens
dreihundertvierundsechzig Tage im Jahr mutterseelenallein. Das hieß neunundneunzig Prozent Einsamkeit – nur zu Weihnachten, wenn ihre in alle Winde zerstreuten ehemaligen Schüler mit Kindern und Kindeskindern ihre Verwandten in Well’s Bottom besuchten, öffnete die Witwe ihr Haus, um ihre Lieben willkommen zu heißen. Ihre Abgeschiedenheit war so vollkommen, dass sie fast keinen Kontakt hatte. »Fast kein Kontakt«, hatte ihr Schüler John-Michael einmal gesagt, »ist etwas ganz anderes als gar keiner.«
Die Witwe setzte in der Küche Wasser auf. Während sie Mehl, Zucker und andere Zutaten, die sie für Plätzchen brauchte, herrichtete, stellte sie sich drängendere Fragen. Wer sind die beiden? Warum sind sie bei diesem Unwetter unterwegs? Dieser Gedanke brachte ihr das Trommeln der Regentropfen wieder zu Bewusstsein. Der Fluss war sicher überflutet. Sie hörte bei dem Sturm nicht einmal den Motor des Rührgeräts, das den Teig bearbeitete.
Bei schönem Wetter drangen viele Laute bis zu ihr ins Haus. Das Vogelgezwitscher. Das ferne Gurgeln des Flusses. Die seltenen Fahrzeuge auf der Old Creamery Road, die etwa eine halbe Meile bergab von ihrer Einfahrt verlief. Selbst die Klänge des AM Radios aus dem Truck des Postboten wehten bis zu ihr herauf. Aber die schönsten Geräusche waren, wenn der Briefträger den Wagen am Straßenrand anhielt und die Flagge des Postkastens nachoben klappte, um die Korrespondenz abzuholen, die sie an ihre Schüler verfasst und am Abend zuvor dort deponiert hatte. Sie hatte die Flagge nicht immer gehört, nicht bevor Landon, einer ihrer Schüler, der zum Künstler geworden war, einen kleinen Leuchtturm aus Metall gestaltet, ihr zu Weihnachten geschenkt und mit Messingscharnieren an ihrem Briefkasten befestigt hatte. Aber es war kein einfacher Leuchtturm. Wenn er flach lag – das Zeichen, dass keine Briefe zum Abholen da waren –, waren die Fenster dunkel, stand er aufrecht, leuchteten sie, und man sah, dass die Spitze des Turms wie ein Menschenkopf gestaltet war. Mein Leuchtturmmann , dachte die Witwe oft. Wie sehr sie das Quietschen der Messingscharniere liebte!
Sie schob das Blech mit den Plätzchen in den Ofen. Dann öffnete sie die Tür einen Spalt und spähte ins Wohnzimmer.
Die junge Frau schaute in die Flammen. Der Mann stand auf und nahm die nassen Plakate ab. Die Witwe rechnete damit, dass er alles auf den Boden fallen ließ, doch er faltete sie zusammen und legte sie ordentlich vor den Kamin. Darunter trug er nur ein Unterhemd und weite Shorts. Entweder hatte er kürzlich beträchtlich Gewicht verloren, oder diese Kleidung gehörte ihm gar nicht.
Wovor laufen die beiden weg? Soll ich sie danach fragen? Oder wäre es besser, ihnen einfach Schutz zu bieten?
Die Witwe trat zurück in die Küche.
Der Kühlschrank war gut gefüllt. Sie hatte am Morgen die Kühe gemolken und Brot gebacken. Erst letzte Woche hatte sie Äpfel von den Bäumen gepflückt und Apfelbutter gemacht. All das stellte sie nun auf ein einfaches Tablett. Sie musste sich keine großen Umstände machen. Seit dem Tod ihres Mannes hatte sie weitgehend auf Schnickschnack verzichtet, obwohl ihr einige Schüler feine Sachengeschenkt hatten: ein vierteiliges Tee-Set und ein Silbertablett. Solche Dinge brauchte sie heute nicht hervorzukramen. Doch als der Wasserkessel pfiff und die Küchenuhr piepste, besann sie sich eines anderen.
Mit dem Silbertablett in der Hand, auf dem sie Plätzchen, Brot, Obst und Käse angerichtet hatte, stieß sie die Küchentür auf.
Der Mann hatte sich wieder gesetzt, und die Frau war dabei, sich aus den nassen Decken zu schälen. Für einen Moment war die Witwe verärgert, weil die Decken in einem Haufen neben dem Sessel landeten – sie hätte gedacht, dass der Mann für Ordnung sorgen würde. Dann jedoch hörte sie, wie die Frau, über deren Schultern nur noch eine Decke lag, leise Laute von sich gab. Diesmal waren es keine stöhnenden, sondern hohe, winselnde Töne.
Die Witwe stellte das Tablett auf den Esstisch, kam näher, um die Decken aufzuheben, und überlegte, wo sie sie trocknen sollte. Sie drehte sich um und betrachtete die beiden Fremden.
In den Falten der letzten Decke, die die Frau einhüllte, lag ein winziges Baby.
Die Frau hielt das Kind in ihren Armen. Der Mann beugte sich zu dem Säugling. In seiner Hand hielt er ein feuchtes Tuch – den Musselin, der auf der Armlehne des Sessels gelegen hatte – und wischte damit das Blut von dem kleinen Gesicht. Das
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