Die Geschichte von Liebe und Sex
Behinderten, der Diskriminierung verschiedener Minderheiten, der öffentlichen Hinrichtungen von Hexen und Homosexuellen, von Verfolgung und Totschlag, von Mord und Selbstmord, von schlimmsten Erniedrigungen und Einsamkeiten, vom Allein- und Verlassensein.
Die Geschichte von Liebe und Sex aber eben auch und immer wieder: Eine Geschichte der Menschlichkeit, der scheinbar unzerstörbaren Sehnsucht nach Nähe, nach Anerkennung, nach Verschmelzung, aber genauso nach Loslassenkönnen, Halten und Gehaltenwerden. Es ist die Geschichte der Hoffnung auf persönliches Glück, selbst wenn die Wirklichkeit dem noch so machtvoll entgegensteht.
Erich Fried über Liebe und Glück
Der Dichter Erich Fried (1921 – 1988), der als jüdischer Junge während der Nazizeit aus seiner Heimat Österreich fliehen musste und den Rest seines Lebens im Exil in England verbrachte, schrieb in einem seiner letzten Gedichte mit dem Titel »Bevor ich sterbe« * :
»Bevor ich sterbe,
noch einmal sprechen von Liebe.
Damit doch einige sagen:
Das gab es. Das muss es geben.
|14| Noch einmal sprechen vom Glück
der Hoffnung auf Glück.
Damit doch einige fragen:
Was war das? Wann kommt es wieder?«
Die Wirklichkeit menschlicher Liebe und Sexualität ist vielfältiger, als es alle Vorschriften und Gesetze zu allen Zeiten und in allen Ländern der Welt jemals waren und sind. Unsere Fantasien und Sehnsüchte sind bunter als alle Regeln. Sie sind wilder, sie sind tiefer, sie sind ruhiger, sie sind zärtlicher. Sie können egoistischer oder selbstloser, beglückender oder schmerzlicher sein. Sie lassen uns zu Menschen werden, menschlich mit allen Schwächen und Stärken. Unser bewusster und unbewusster Umgang mit Liebe und Sex trägt entscheidend dazu bei, uns zu einem unverwechselbaren Menschen werden zu lassen.
Er formt dich zu dem, der oder die du heute bist – und die oder der du vielleicht morgen sein kannst. Und je mehr du dich selbst verstehst, umso mehr wirst du andere verstehen können. Umso weniger wirst du sie bekämpfen müssen.
Das ist alles andere als leicht. Millionen Menschen leiden eher, manche ein Leben lang, sie verzichten, resignieren, verbittern schließlich oder sie sterben gar, statt sich auf die Mühe des geduldigen, zuweilen schmerzlichen Verstehens auch der widersprüchlichen und nicht angepassten Seiten von sich und anderen einzulassen.
Thando M., 16 Jahre, berichtet aus Südafrika **
Thando wohnt in einem Township, einer Armensiedlung am Rand von Kapstadt. Seit dem Tod ihrer Mutter an den Folgen von AIDS sorgt sie selbst für ihre drei jüngeren Geschwister. Die jüngste Schwester, Nelisa, ist gerade zwei Jahre und selbst HIV positiv. Thando berichtet:
»An der Hauptstraße steht ein riesengroßes Schild, angeblich zur Vorbeugung gegen AIDS. Darauf sind ein Junge und ein Mädchen in meinem Alter zu sehen, |15| vielleicht etwas älter, die sich umarmen und anlächeln. In Englisch und Xhosa steht darunter: We love life – wir lieben das Leben. Das ist alles. Mich macht dieses Schild traurig und wütend.
Warum steht da nicht: Ich bin ein Junge – und ich werde ein Kondom benutzen, wenn ich das erste Mal mit meiner Freundin Sex habe. Oder: Ich bin ein Mädchen – und ich werde stark sein und Nein sagen, wenn der Junge mich drängt, Sex zu haben, und ich es nicht will und schon gar nicht ohne Kondom. So steht da nur: Wir lieben das Leben, wie in jeder x-beliebigen Reklame, in der es um Zahnpasta, Autos oder Klamotten geht.
Du sollst dir also deinen Teil denken. Und die beiden auf dem Schild? Die denken vielleicht, weil sie ihr eigenes Leben egoistisch lieben wie die meisten: Ich bin der Junge, und wenn ich die Kleine nicht rumkriege, dann bin ich unten durch bei meinen Kumpels. Die denken schon lang, dass ich vielleicht schwul bin oder ein Spätzünder. Und das Mädchen denkt: Ich liebe das Leben und habe die Armut in unserem Township satt – der Typ hat ein Auto und mir versprochen, bei mir zu bleiben und mir zum Geburtstag sogar ein Handy zu kaufen. Bei einem Mal wird schon nichts passieren.
Alle tun so, als ob sie sich korrekt verhalten – und keiner oder nur ganz, ganz wenige tun es wirklich. Bei uns in Südafrika sterben jeden Tag etwa 800 meist junge Menschen an AIDS, weil die Leute nicht ehrlich und respektvoll miteinander reden, sondern nur blöd grinsen wie auf dem großen Schild.
Als Mutter starb, war plötzlich keiner mehr da. Niemand wollte mit ihr und uns zu tun haben, weil sie angeblich selbst
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