Die Jungens von Burg Schreckenstein
Der Mann mit der Nase
Eigentlich machte Neustadt seinem Namen keine Ehre, es war nämlich eine sehr alte Stadt. Mit seinen vielen Türmen, Giebeln, prächtigen Fassaden und engen Gassen hatte es sich in den letzten Jahren zu einem beliebten Ausflugsziel entwickelt. An sonnigen Feiertagen glich der Marktplatz vor dem Münster eher dem Parkplatz vor einem Sportstadion. Kein Wunder, daß wir Neustädter Jungen sämtliche Automarken kannten.
Wenn wir mit unseren Eltern am sonntäglichen Kaffeetisch sitzen mußten und nicht ans Fenster durften, konnten wir, nur dem Gehör nach, sagen, was für ein Wagen gerade draußen vorbeifuhr.
Aber so schön Neustadt sein mochte, so eng war es auch, und am allerengsten war unsere Schule. Obwohl der Unterricht schichtweise stattfand, saßen wir doch so gedrängt, daß man bei Klassenarbeiten um das Abschreiben sozusagen gar nicht herumkam. Vor lauter fremden Heften rechts und links sah man das eigene kaum noch. Sogar unsere Lehrer fanden, daß es so nicht weitergehen könne, und Direktor Meyer hatte bei der letzten Schulfeier ganz offen von „unhaltbaren Zuständen“ gesprochen. Der Bürgermeister war darauf richtig rot geworden. Wahrscheinlich hatte er ein schlechtes Gewissen, weil sein Sohn in die moderne und geräumige Franz-Joseph-Schule ging. O ja, unser „Rex“, wie wir Direktor Meyer nannten, war schon in Ordnung.
Eines Tages herrschte große Aufregung. Aus völlig schleierhaften Gründen sollte der Unterricht nur bis elf Uhr dauern. An und für sich wäre das ein Anlaß zur Freude gewesen, trotzdem fühlten wir uns nicht recht wohl. Die Direktion hatte alle Eltern zu einer Unterredung in den Rathaussaal gebeten. Das war noch nie vorgekommen und deshalb sehr verdächtig, zumal niemand wußte, warum.
Nicht einmal „Dampfwalze“, der Größte und Stärkste von uns, hatte eine Ahnung. Und Dampfwalze wußte sonst alles; denn seiner Mutter gehörte die Weinstube „Zum guten Tropfen“, wo die Lehrer ihren Stammtisch hatten.
„Sicher geht es um die Schule!“ stellte Strehlau, unser Musterschüler, fest.
„Ach nee? Wir dachten gerade, es ginge um deine Großmutter!“ entgegnete Mücke, den wir so nannten, weil er der Kleinste war. — Alle lachten, dann sagte Ottokar Schimmerding:
„Wir gehen jedenfalls zu Simoni !“
Der Vorschlag wurde mit großem Freudengeheul angenommen, denn es war sehr heiß, und Simoni betrieb die einzige Eisdiele in Neustadt. Direkt neben dem Rathaus. Ja, Ottokar hatte in solchen Fällen immer die beste Idee.
Jeder mit seinem Kleingeld klimpernd, standen wir alsbald vor Simonis kleinem Laden Schlange. Der Marktplatz war, wie meist unter der Woche, fast leer. So konnte man ab und zu Stimmen aus dem Rathaussaal hören. Was unsere Eltern und Lehrer da besprachen, war jedoch nicht zu verstehen.
„Schau mal, was da kommt“, sagte Klaus zu seinem Freund Dieter und deutete auf eine Kutsche, die gerade auf den Platz holperte.
„Landauer mit zwei PS!“ antwortete der Angeredete, „ich kenne die Marke, auch wenn’s kein Auto ist!“
Das Gefährt hielt genau vor dem Eingang des Rathauses. Der Kutscher sprang vom Bock, öffnete den Schlag und half einem spindeldürren Herrn mit einer unendlich großen Nase beim Aussteigen.
„Mensch, das ist doch der Graf Schreckenstein! Was will der denn hier?“ ereiferte sich Dampfwalze, während „die große Nase“ hinter der Rathaustür verschwand.
„Woher kennst du denn den?“ wollte Klaus wissen.
„Von meiner Mutter natürlich!“ murrte Dampfwalze, als ob das zur Allgemeinbildung gehöre.
„Eine Nase wie ’ne Mauersäge!“ fügte Mücke unter allgemeinem Gelächter hinzu.
„Ob der in die Sitzung geht?“ fragte Hans-Jürgen, indem er mit einer Portion für fünfzig hinzutrat.
„Wir werden auf jeden Fall etwas unternehmen“, schloß Dampfwalze und stibitzte die große Erdbeere von Hans-Jürgens Rieseneis . Und wieder einmal war es Ottokar, der die beste Idee hatte:
„Jawohl, wir singen!“
Der Chor gruppierte sich ebenso schnell wie leise direkt unter den Fenstern des Sitzungssaals. Anscheinend war das den Pferden der gräflichen Kutsche nicht recht, denn sie bäumten sich auf und galoppierten mit dem machtlosen Kutscher in die nächste Einbahnstraße. Gegen die Fahrtrichtung wohlbemerkt .
Werner mußte über den Vorfall so lachen, daß er Strehlau lauter Himbeer- und Vanilleeis ins Gesicht prustete, während wir den „Jäger aus Kurpfalz“ anstimmten. Unser Gesangslehrer, kurz
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