Die gestohlene Zeit
sind zu gut für ein Nasenfahrrad«, versuchte ich einen kläglichen Scherz, aber sie sah mich nur ernst an.
»Na ja«, druckste ich herum. »Ich habe da vor ein paar Tagen dieses Ladenlokal gesehen, du weißt schon, in der Gasse hinter der Uni«, sagte ich und zupfte gedankenverloren an Caros Bettdecke. »Das wäre ideal für ein kleines Café. Und stell dir vor, da hing ein Schild im Schaufenster: zu vermieten!« Vorsichtshalber blickte ich Caro jedoch nicht an. Ich konnte mir schon denken, was sie gleich erwidern würde.
Nämlich, ob ich wüsste, wie teuer so eine Ausstattung für ein Café war. Und woher ich das Geld nehmen wollte? Da ich weder reiche Eltern noch im Lotto gewonnen hatte, bliebe nur ein Kredit. Jeder Bankbeamte würde sich allerdings wahrscheinlich kaputtlachen, wenn ein einundzwanzigjähriges Mädchen vor ihnen stünde und um ein paar Tausender bäte …
»Also ich wäre auf jeden Fall Stammgast bei dir«, unterbrach Caros Stimme meine düsteren Visionen.
Überrascht blickte ich auf. »Wie jetzt?«, fragte ich überrumpelt. »Du hältst meine Idee nicht für verrückt?«
»Doch«, sagte Caro trocken, »aber wenn ich, ebenso wie das übrige Wohnheim, deinen Backkünsten schon nicht widerstehen kann, wieso sollte der Laden dann nicht brummen?«
Spontan fiel ich ihr um den Hals – zum Glück hatte ich schon im Kindergartenalter die Windpocken hinter mich gebracht und war gegen jegliche Ansteckung immun. »Du bist die beste Freundin, die man sich wünschen kann«, erklärte ich feierlich.
»Ich weiß. Und falls sich deine Gäste mal überfressen, kannst du sie ja anschließend in meine Apotheke schicken!«
Ich musste lachen. »Und? Was würdest du ihnen dann verabreichen?«, stellte ich sie auf die Probe.
»Süßholzwurzel«, kam es von Caro wie aus der Pistole geschossen. »Falls es die Leber ist, Artischockenextrakt. Wegen der Bitterstoffe, die …«
»Schon gut! Du bist das pharmazeutische Superhirn, obwohl du noch nicht mal deine Zwischenprüfung in der Tasche hast«, kapitulierte ich lachend. Sie immer wieder nach bestimmten Mitteln gegen alle möglichen Zipperlein auszuquetschen, war schon in der Schule ein Spiel zwischen Caro und mir gewesen. Leider war es mir noch nie gelungen, ihr eine Frage zu stellen, die sie nicht beantworten konnte. Heilpflanzen waren ihre liebste Passion. Auch diesmal grinste sie und genoss ihren Triumph, ehe sie mir einen freundschaftlichen Knuff gab.
»Nun gehst du aber erst mal deinen Pflichten nach, Emilia Wiltenberg, und passt auf, dass die Schüler beim Bergsteigen keinen Unsinn machen und am Ende noch den Zwergenkönig aufscheuchen. Also pack deinen Rucksack, und vergiss die Wanderschuhe nicht. Und wenn du zurückkommst, können wir uns dieses leerstehende Ladendings für dein künftiges Café ja mal ansehen«, sagte sie lächelnd. Widerspruchslos kam ich ihrer Aufforderung nach. Doch in Gedanken war ich bereits dabei, mein Café einzurichten. Plötzlich schien alles möglich – damals im Sommer 1987 .
»Dort oben seht ihr also den berühmten Rosengarten«, dozierte Herr Spindler, der am Heinrich-Heine-Gymnasium Physik und Geschichte unterrichtete und mich als Praktikantin betreute. »Es gibt tatsächlich Wanderer, die schwören, in der Dämmerung das Rot der Blüten gesehen zu haben«, fügte er hinzu.
Keiner aus der Klasse machte einen Mucks, eigentlich untypisch für diesen Chaotenhaufen. Die vergangenen zwei Tage hatte ich alle Mühe gehabt, mich zu behaupten. Einige der Mädchen waren ganz nett, aber die meisten Jungs sahen natürlich überhaupt nicht ein, wieso sie als Zwölftklässler die Anweisungen einer einundzwanzigjährigen Studentin befolgen sollten. Allen voran Udo von Hassell, Wortführer und ein besonders unangenehmer Zeitgenosse. Gerade achtzehn geworden, brachte er jedoch bereits das Gewicht eines Killerwalbabys auf die Waage. Er machte mir das Leben auf der Kursfahrt besonders schwer, eifrig unterstützt von seinem Kumpel Frank Reger. Wobei »Sklave« wahrscheinlich treffender wäre. Udo gab den Ton an, und Frank tat alles, was er verlangte. Zum Beispiel auf das Auto des Schuldirektors mit Rasierschaum Parolen wie
Anarchy sucks
oder
Punk’s not dead
zu sprühen, wie ich von ein paar Schülern erfahren hatte. Udo verkaufte es als politisch motivierten Abi-Streich, dabei hatte er mit Politik ungefähr so viel am Hut wie Helmut Kohl mit einer Nulldiät. Und wer in flagranti erwischt wurde, als er gerade akribisch den
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