Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität
was bei Missionen in solchen Gegenden eher unüblich ist, und ich als staatliche Institution im juristisch-politischen Bereich tätig war, mußten mir solche Differenzen über kurz oder lang auffallen.
Von Straßburg nach Sarajevo
Es war Mitte Januar 1996, als wir zum erstenmal nach Sarajevo flogen. Die Flugzeit von Straßburg nach Sarajevo betrug genau 80 Minuten, und an jenem Tag habe ich ein für allemal begriffen, wie falsch meine geographischen Vorstellungen seit Anfang der neunziger Jahre gewesen waren. Bosnien lag praktisch mitten in Europa, nicht etwa weit entfernt, wie ich es mir während der Kriegsjahre zur eigenen Beruhigung vorgestellt hatte. Landen konnten wir nach dieser kurzen Flugzeit aber doch erst wesentlich später, denn für Flugbewegungen außerhalb der NATO gab es offenbar nicht so leicht eine Landeerlaubnis, auch wenn sie vorangemeldet und genehmigt worden waren. Dies eine Erfahrung, die sich später unzählige Male wiederholen sollte. Schließlich landeten wir auf der holprigen Piste eines zum Militärflugplatz umfunktionierten Flughafens, dessen Gebäude weitgehend zerstört waren. Die Lettern »AERODROM … EVO« waren noch zu lesen, der Rest war offensichtlich weggeschossen worden. Durch hohe Mauern von Sandsäcken hindurch erreichten wir ein notdürftig eingerichtetes Büro – es befand sich in einem Teil des Flughafens mit immerhin im Erdgeschoß noch intakten Grundmauern. Hier begrüßten uns Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der örtlichen OSZE-Mission. Schon im Anflug hatten wir die völlig zerstörten Quartiere neueren Datums rund um den Flughafen gesehen, ein Teil dieser Gebäude hatte – wie wir später erfuhren – im Jahre 1986 als olympisches Dorf gedient.
Auf der Fahrt in die Stadt der nächste Eindruck von der Zerstörung, |15| die Redaktion der Zeitung »Oslobođenje«, ein modernes Gebäude mit vormals ansprechender Architektur, nun zum eindrucksvollen Mahnmal geworden: Der zentrale Teil des Turmes ragt noch auf, Teile der Böden der einzelnen Stockwerke hängen am Turmskelett. Einprägsam schließlich vor allem die Ruine der Nationalbibliothek, die Außenmauern eines reich verzierten, im maurischen Stil errichteten Gebäudes, völlig ausgebrannt, so daß man durch die leeren Fensteröffnungen in den Himmel sehen konnte. Auch dies ein Eindruck, der sich in den folgenden Jahren immer gleichbleibend wiederholen sollte: Die Ringstraße um die Altstadt von Sarajevo, auf welcher die altehrwürdige Straßenbahn schon bald ratternd und klingelnd wieder ihre Runden drehen sollte, funktioniert als Einbahnverkehr im Gegenuhrzeigersinn, und dies um die Nationalbibliothek als östlichen Eckpunkt herum. Wer sich mit einem Auto in dieser Stadt bewegt, fährt regelmäßig zunächst an der Süd-, dann an der Ost- und schließlich an der Nordseite der Nationalbibliothek oder vielmehr ihrer Ruine vorbei, ein Ritual von wahrscheinlich nachhaltigerer Bedeutung, als viele internationale Besucher in der Hektik des Augenblicks realisiert haben mögen. Schon bei der zweiten oder dritten Fahrt durch die Stadt zeigte uns der Fahrer die Straßenecke am Ufer der Miljacka, des schmalen Flusses, der von Osten nach Westen durch Sarajevo fließt, wo der österreichische Erbprinz Franz Ferdinand und seine Gemahlin im Jahre 1914 erschossen worden waren. Dazu viele Fragen zu stellen, blieb keine Zeit, zu vieles mußte rasch organisiert werden. Geschichtliche Hintergründe waren später zu erfahren oder nachzulesen.
Die Vorgeschichte
Die Stadt Sarajevo war über Jahrhunderte hinweg ein Symbol für das friedliche Zusammenleben verschiedener Völker, Kulturen und Religionen. Hier lebten Bosnier islamischen Glaubens – sie bezeichnen sich heute als »Bosniaken« –, Bosnier serbischer Abstammung mit mehrheitlich christlich-orthodoxem |16| Glauben, Bosnier kroatischer Abstammung mit mehrheitlich christlich-katholischem Glauben, eine bis zum zweiten Weltkrieg zeitweilig recht große jüdische Gemeinde, und es gab vor allem eine Tradition der Toleranz. Dies war auch in Europa bekannt, und wer es zuvor nicht gewußt hatte, erfuhr es spätestens während der Belagerung der Stadt 1992 bis 1995: Kulturschaffende in Sarajevo – welcher ethnischen Gruppe sie auch immer angehören mochten – hielten nicht nur hartnäckig an ihrem Verbleiben in der belagerten Stadt fest, sondern auch daran, daß Kultur weiterhin stattfinden sollte, und dies unter unvorstellbar erschwerten Bedingungen wie Heckenschützen und
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