Gewitter der Liebe
1
New York, 1849
Die Strahlen der Vorfrühlingssonne vermochten es kaum die von jahrelangem Schmutz und Staub blinden Fenster der Textilfabrik Barclay & Wilson zu durchdringen. Das große Backsteingebäude lag in einem Industriegebiet der Stadt, fernab von Prachtstraßen, noblen Geschäften und Theatersälen. In diesen Teil New Yorks verirrten sich nur die Menschen, die dort arbeiteten und gezwungen waren, in den elenden Arbeitersiedlungen zu leben, weil sie zu wenig verdienten, um sich eine anständige Unterkunft leisten zu können.
In einem der Nähsäle von Barclay & Wilson arbeitete auch Julia O’Donovan. Sie saß mit Dutzenden von anderen Frauen an einem langen rohen Holztisch, vor sich Stoffstücke gehäuft, die sie im Akkord bearbeiten musste. Seit Jahren war sie für das Anheften von Stehkragen an einfachen Nesselarbeitshemden zuständig; in einem weiteren Saal wurden die Kragen mit diesen modernen Nähmaschinen angenäht. Zu gern hätte Julia an einer Nähmaschine gesessen, denn das Bedienen war einfach und der Lohn etwas höher.
Sie hatte keine Illusionen, trotz ihres erst dreiundzwanzigjährigen Lebens, denn ihr war bewusst, dass sie als arme Einwanderertochter niemals genügend Geld verdienen würde, um ein anständiges Leben führen zu können. Viele Näherinnen von Barclay & Wilson waren Einwanderer aus der Alten Welt. Sie waren voller Hoffnung in New York gelandet und würden dort bleiben, bis sie starben.
Die meisten würden nie aus dem Elend herauskommen.
Julia war noch ein kleines Mädchen gewesen, als ihre Eltern einwanderten, und so hatte sie kaum eine Erinnerung an ihr Heimatland Irland. Ihre Mutter hatte häufig von der zauberhaften grünen Insel in Europa erzählt und vor Heimweh oft ein paar heimliche Tränen vergossen. Aber das Leben war dort hart gewesen, als Kleinbauer konnte man mit den dürftigen Ernteerträgen kaum seine Familie ernähren, geschweige denn die Pacht für das Ackerland bezahlen. Und so hatten sich die O’Donovans eines Tages, einundzwanzig Jahre zuvor, schweren Herzens entschlossen, Irland zu verlassen und mit einem der Auswanderungsschiffe nach Amerika zu reisen, wie es zu jener Zeit viele Iren taten. Aus der Neuen Welt kamen ständig Nachrichten von dem schönen Leben, das man dort führen konnte, und es hieß, dass man es schnell zu Reichtum bringen würde, wenn man nur fleißig genug war. Und fleißig waren die Auswanderer, sie hatten immer gearbeitet und nicht vor, in Amerika auf der faulen Haut zu liegen.
Doch die Realität sah ganz anders aus, wie Julias Eltern bald erfahren mussten. Sie besaßen kein Geld und mussten zunächst zusehen, Arbeit in New York, wo ihr Schiff gelandet war, zu finden, um sich später eine Existenz aufzubauen. Aber dazu sollte es nie kommen. Julias Vater Joseph bekam eine Stelle als einfacher Arbeiter in einer Stahlfabrik, Ann O’Donovan verdiente ihren Lebensunterhalt als Dienstmädchen bei einem Fabrikbesitzer, der ihr großzügig erlaubte, die kleine Julia mit zur Arbeit zu bringen. Das, was die O’Donovans zusammen verdienten, reichte gerade für ein ärmliches Zimmer in einem Arbeiterhaus, in dem es im Winter eiskalt war und das im Sommer einem Brutkasten glich.
Als Julia fünf Jahre alt war, wurde ihre Mutter noch einmal schwanger. Der kleine Junge, den sie zur Welt brachte, war krank und schwächlich und starb noch vor seinem ersten Geburtstag an hohem Fieber. Ein Arzt hätte ihn vielleicht retten können, aber dafür fehlte das Geld.
Und so arbeiteten die O’Donovans hart und verbissen, doch sie sollten nie mehr das elende Arbeiterquartier verlassen. Die Fabrikbesitzer wurden immer reicher, weil sie die Einwanderer für Hungerlöhne arbeiten ließen, und denen blieb oft keine andere Wahl.
Beide Elternteile waren früh verstorben, ausgebrannt und resigniert; seitdem war Julia auf sich selbst angewiesen. Nun teilte sie sich mit einer Arbeitskollegin namens Lilly Olsson, deren Familie einst aus Schweden eingewandert war, eine winzige Dachkammer. Im Gegensatz zu Julia hatte Lilly große Pläne; sie hatte nicht vor, ihr Leben lang für wenig Geld Arbeiterhemden zu nähen. Lilly war groß und hatte langes wallendes Blondhaar, eine hübsche Figur und stets ein keckes Lächeln auf den Lippen. Sie flirtete für ihr Leben gern, und die Männer sahen ihr oft sehnsüchtig nach, wenn sie mit wiegenden Hüften einherschritt und dabei so tat, als bemerkte sie die begehrlichen Blicke um sich herum gar nicht.
Die beiden Frauen
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