0870 - Tabitas Trauerhalle
Sie hatte geahnt, sie hatte es gewußt, und sie hatte sich in einer entsprechenden Entfernung aufgehalten. Es war eine ihrer Nächte, so herrlich dunkel, noch schwül, aber feucht, denn die Hitze der letzten Wochen hielt sich noch immer. Der Boden hatte gekocht, und nun war der erste Regen gefallen, doch auch er hatte die Erde kaum abgekühlt.
Dampfschwaden bildeten träge Nebelschleier, die durch die Straßen krochen. Menschen wirkten wie aufgedreht, besonders die jüngeren wollten die Nacht zum Tage machen.
Tabita war da.
Man sah sie nicht. Sie glich einem Phantom in ihrer schwarzen Kleidung. Sie stand am Rand einer Reihe parkender Autos. Ein ebenfalls dunkler Geländewagen gab ihr den nötigen Schutz, und auch sie hatte ihren kleinen Caravan an exponierter Stelle abgestellt. Warten, bis zum Durchbruch. Sie hatte einen Tip aus dem Jenseits bekommen, daß es hier passieren würde. Die Bombe war bereits gelegt. Irgendeine der zahlreichen Terror-Organisationen steckte dahinter, aber Namen waren in diesem Geschäft wie Schall und Rauch.
Wichtig war die Tat.
Warten und Wissen. Es würde passieren, und dann würde Tabita das allgemeine Chaos ausnutzen und zuschlagen.
Hin und wieder nur warf sie einen Blick auf die Uhr. Der Zeiger rückte unerbittlich vor. Minute für Minute.
Tabita streckte ihre Lippen, die trocken und spröde geworden waren. Auf der Gesichtshaut lag ein dünner Schweißfilm. Wer bei diesem Wetter nicht schwitzte, war nicht normal. Aber Tabita transpirierte aus anderen Gründen, nicht so sehr wegen der Hitze. Er war die Erwartung einer neuen Beute, die sie so reagieren ließ.
Es ging voran.
Das Kino gehörte noch zu den älteren Bauten. Es lag in der Nacht wie eine kalte Insel. Licht strahlte nach innen und nach außen. Die Kassiererin hatte längst zusammengeräumt und ihre Einnahmen gezählt. Sie schloß auch die Tür neben der Kasse ab.
Tabita wartete.
Sie sah das abgestellte Motorrad nahe des Eingangs. Eine alte Maschine, aber in diesem Fall ein Höllenofen. Die Botschaft stimmte, die man ihr mitgeteilt hatte. Sie stimmte immer. Es ging um gewisse Tatsachen, die nicht geleugnet werden konnten.
Ende der Vorstellung.
Die Zuschauer verließen das Kino. Sie waren noch immer mit dem gerade Gesehenen beschäftigt.
Sie lachten, sie unterhielten sich über den Film. Zumeist junge Leute, die auf Komödien abfuhren und nicht so sehr auf traurige Stoffe.
Die Laune war top.
Und das Grauen schlug zu.
Tabita erlebte es. Sie sah es wie im Film. Dabei hatte sie den Eindruck, als würde ihr Geist all diese schrecklichen Dinge viel langsamer erleben, als sie in Wirklichkeit geschahen. Es war alles so anders geworden, der Wirklichkeit beinahe entrissen, wie ein Drama auf der Leinwand, doch keine Komödie.
Das war die Realität.
Tabita wartete einen bestimmten Augenblick ab. Sie kannte diesen Zeitpunkt, der immer bei bestimmten Anlässen eintrat. Es war genau der Punkt, wo das erste schreckliche Grauen vorbei war und es ihr so vorkam, als würde die Welt den Atem anhalten.
Es dauerte nie lange, aber wer den Zeitpunkt nutzte, der konnte viel erreichen.
Tabita auch.
Sie löste sich aus ihrem Versteck. Innerhalb der Dunstwolken lief sie über die Straße, und es sah so aus, als wäre sie selbst ein Teil dieser Nebelfahnen.
Sie hatte völlig abgeschaltet und kümmerte sich nicht um die Schreie oder um das Stöhnen der Verletzten. Ihr Blick galt einzig und allein einer Person.
Der Toten!
Ein junges Mädchen noch, das in seinem Blut lag. Sie wußte genau, daß dieses Menschenskind nicht mehr aufstehen würde. Es war zu nahe am Explosionsherd gewesen, diesem alten Motorrad, von dem nur noch Fragmente übriggeblieben waren. Tabita bückte sich. Was sie jetzt tat, kannte sie.
Es gab auch keinen Grund, sich ablenken zu lassen. Sie dachte daran, sich unsichtbar machen zu können. Alles mußte seinen richtigen Weg gehen. Nur wenn der eingeschritten war, konnte sie zum Ziel kommen.
Die schwarzgekleidete Gestalt umfaßte die Tote. Leicht hob sie den Körper an. Dann nahm sie sich die Zeit, um für einen Moment in das noch junge Gesicht zu schauen. Noch im Tod zeichnete sich die Überraschung dort ab. Die tödlichen Verletzungen befanden sich an der Rückseite des Schädels, alles andere war relativ normal.
Ein bedauerndes Lächeln huschte für einen Moment über die Lippen der Frau. Aber es ging nicht anders. Sie mußte handeln. Sie konnte sich keine Niederlage erlauben, ihr Ziel war wichtiger, die anderen
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