Die großen Erzählungen
kleine, scharfe Zunge. Schwätzt sie so weiter, mußt du sie dem Doktor zeigen! Nicht wahr, Doktor?‹ Und weil er fühlte, daß sein Scherz keineswegs sehr gelungen war, fuhr er ernsthaft fort: ›Der Aufenthalt hier behagt meiner Frau nicht. Wir werden morgen abend aufbrechen.‹
Um meinen Freund nicht merken zu lassen, daß ich die Mittelmäßigkeit seines Scherzes erkannt hatte, versuchte ich, sozusagen seinen Intentionen zu folgen, und sagte: ›Zeigen Sie schnell die Zunge dem Onkel Doktor!‹ – Sie streckte mir sofort ihr schmales, beinahe karmesinrotes Zünglein entgegen, und Sie können mir glauben, es ist mein Beruf, ich habe leider vieltausendmal Frauenzungen anschaun müssen: Hier, beim Anblick dieses Züngleins, hatte ich den vielleicht allzu primitiven, aber sehr überzeugenden Eindruck: eine Schlange.
Am nächsten Vormittag kam mein Freund zu mir. ›Wir fahren heute abend‹, sagte er. ›Ich will mich verabschieden.‹ ›Werde ich Ihre schöne Frau nicht wiedersehn?‹ ›Bitte, kommen Sie zur Bahn, am Abend. Ich bin hierhergekommen, damit wir sozusagen einen Separatabschied nehmen.‹
Ich sah, daß er nicht sehr glücklich war. Ich schlug ihm einen Spaziergang vor. Ich weiß, daß man verschwiegene Dinge leichter im Gehen sagt als im Sitzen. Man sagt’s eben nichtAug’ in Aug’. Der Sprechende wie der Zuhörer, sie blicken beide zu Boden. Eine laute Straße befreit manchmal die menschliche Brust genauso wie Alkohol oder auch, wenn Sie wollen, wie jener stille Kirchenwinkel, in dem gewöhnlich der Beichtstuhl wartet. Wir gingen also spazieren. Und da erzählte er mir, daß es schon während der Hochzeitsreise ein paar Unstimmigkeiten zwischen Gwendolin und ihm gegeben hätte. Es begann bei der Musik. Sie liebte Wagner. Er beschimpfte ihn. Nichts konnte einen Musiker seiner Art – und auch meiner Art – so sehr reizen wie ein Wohlgefallen an Wagner. Gewiß, die Liebhaber Wagners sind ebenfalls musikalische Menschen. Aber die musikalischen Menschen könnte man in zwei feindliche Gruppen teilen: in Mozart-Liebhaber und Wagner-Anhänger. Merken Sie, daß ich nicht einmal Wagner-Liebhaber mehr sagen kann? Ich sage: ›Anhänger‹. Menschen mit Ohren für Posaunen und Kesselpauken – und Menschen mit Ohren für Cello, Geige und Flöte. Eher werden sich zwei Taubstumme verständigen als zwei musikalische Menschen, von denen einer Mozart liebt und der andere Wagner. Beides zusammen kann man meiner Meinung nach nicht. Ich glaube, es sind im Grunde taube Menschen, die beides lieben; oder wenn sie hören, sind’s Kapellmeister.
Nun, ich brauche Ihnen nichts mehr zu sagen: Sie vertrugen sich wie Mozart und Wagner. Ich wußte sofort, daß diese Ehe zerbrochen war. Aber ich sagte: »Spielen Sie zu Hause Mozart, lieben Sie viel, schlafen Sie mit Ihrer Frau, ein Kind sollte sie bald bekommen. Schwangerschaft ändert manchmal den musikalischen Geschmack. Fahren Sie mit Gott.‹
Wir umarmten uns, jetzt schon. Ich begriff, daß er mich vor seiner Frau am Bahnhof niemals hätte umarmen können.
Ich kam zum Zug. Gwendolin gab mir die Hand zum Kuß und stieg rasch ein, ein Lächeln für zehn Kreuzer um denholden Mund. (Die Damen lächeln merkwürdigerweise genauso wie die armen Straßenmädchen; das heißt, wenn sie konventionellen Abschied nehmen; so lächeln die Mädchen, wenn sie eine Bekanntschaft machen.)
Mein Freund wäre gerne noch zu mir auf den Perron heruntergestiegen. Aber er fürchtete sich, es war, als hielte ihn seine Frau hinten am Rock fest. Er beugte sich nur zum Fenster heraus, gab mir noch einmal die Hand – und ich ging – lange noch vor der Abfahrt des Zuges.
V
Ich kenne nicht die internationalen Gesetze oder Sitten der Diplomatie. Ich glaube aber, daß es nicht üblich ist, daß ein Diplomat eine Frau aus dem Lande heiratet, in dem er als der Vertreter seines eigenen fungiert. Ausnahmen gibt es, ich habe schon von einigen gehört. Mein Freund gehörte allerdings nicht zu diesen. Unser damaliger Botschafter dürfte ein strenger Formalist gewesen sein. Mein Freund mußte, weil er eine Engländerin geheiratet hatte, London verlassen. Sein neuer Posten war kein anderer als Belgrad.
Ich habe nicht erwähnt, daß die Frau meines Freundes die einzige Tochter ihrer Eltern war. Sie wissen: Engländer reisen zwar viel in der Welt herum, sie kennen sogar die verschiedenen Länder besser als andere Westeuropäer; aber sie schicken ihre Töchter nicht gerne in unwirtliche Gegenden. Einen
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