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Die großen Erzählungen

Die großen Erzählungen

Titel: Die großen Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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»Jetzt, wo die Bauern kommen?«
    »Grade jetzt!« sagte der Korallenhändler. »Ich habe wichtige Geschäfte. Pack mir meine Sachen!«
    Und mit einer bösen und gehässigen Wollust, die er niemals früher gekannt hatte, sah er die Frau aus dem Bett steigen, sah ihre häßlichen Zehen, ihre fetten Beine unter dem langen Hemd, auf dem ein paar schwarze, unregelmäßige Punkte hingesprenkelt waren, Zeichen der Flöhe, und hörte er ihren altbekannten Seufzer, das gewohnte, beständige Morgenlied dieses Weibes, mit dem ihn nichts anderes verband als die ferne Erinnerung an ein paar zärtliche, nächtliche Stunden und die hergebrachte Angst vor einer Scheidung.
    Im Innern Nissen Piczeniks aber jubelte gleichzeitig eine fremde und dennoch wohlvertraute Stimme: Piczenik geht zu den Korallen! Er geht zu den Korallen! In die Heimat der Korallen geht Nissen Piczenik! ...
V
    Er bestieg also mit dem Matrosen Komrower den Zug und fuhr nach Odessa. Es war eine ziemlich umständliche und lange Reise, man mußte in Kiew umsteigen. Der Korallenhändler saß zum erstenmal in seinem Leben in der Eisenbahn, aber ihm ging es nicht wie so vielen anderen, die zum erstenmal Eisenbahn fahren. Lokomotive, Signal, Glocken, Telegraphenstangen, Schienen, Schaffner und die flüchtige Landschaft hinter den Fenstern interessierten ihn nicht. Ihn beschäftigte das Wasser und der Hafen, denen er entgegenfuhr, und wenn er überhaupt etwas von den Eigenschaften und Begleiterscheinungen der Eisenbahn zur Kenntnis nahm, so tat er es lediglich im Hinblick auf die ihm noch unbekannten Eigenschaften und Begleiterscheinungen der Schiffahrt. »Gibt es bei euch auch Glocken?« fragte er den Matrosen. »Läutet man dreimal vor der Abfahrt eines Schiffes? Pfeifen und tuten die Schiffe wie die Lokomotiven?Muß das Schiff wenden, wenn es zurückfahren will, oder kann es ganz einfach rückwärts schwimmen?«
    Gewiß traf man, wie es auf Reisen ja immer vorkommt, unterwegs Passagiere, die sich unterhalten wollten und mit denen man dies und jenes besprechen mußte. »Ich bin Korallenhändler«, sagte Nissen Piczenik wahrheitsgemäß, wenn man ihn nach der Art seiner Geschäfte fragte. Fragte man ihn aber weiter: »Was wollen Sie in Odessa?«, so begann er zu lügen. »Ich habe dort größere Geschäfte vor«, sagte er. »Das interessiert mich«, sagte plötzlich ein Mitreisender, der bis jetzt geschwiegen hatte. »Auch ich habe in Odessa größere Geschäfte vor, und die Ware, mit der ich handle, ist sozusagen mit Korallen verwandt, wenn auch viel feiner und teurer als Korallen!« »Teurer, das kann sein«, sagte Nissen Piczenik, »aber feiner ist sie keineswegs.« »Wetten, daß sie feiner ist?« rief der andere. »Ich sage Ihnen, es ist unmöglich. Da braucht man gar nicht zu wetten!« »Nun«, triumphierte der andere, »ich handle mit Perlen!« »Perlen sind gar nicht feiner«, sagte Piczenik. »Außerdem bringen sie Unglück.« »Ja, wenn man sie verliert«, sagte der Perlenhändler. Alle anderen begannen, diesem sonderbaren Streit aufmerksam zuzuhören. Schließlich öffnete der Perlenhändler seine Hose und zog ein Säckchen voller schimmernder, tadelloser Perlen hervor. Er schüttete einige auf seine flache Hand und zeigte sie allen Mitreisenden. »Hunderte von Austern müssen aufgemacht werden«, sagte er, »ehe man eine Perle findet. Die Taucher werden teuer bezahlt. Unter allen Kaufleuten der Welt gehören wir Perlenhändler zu den angesehensten. Ja, wir bilden sozusagen eine ganz eigene Rasse. Sehen Sie mich zum Beispiel. Ich bin Kaufmann erster Gilde, wohne in Petersburg, habe die vornehmste Kundschaft, zwei Großfürsten zum Beispiel, ihre Namen sind mein Geschäftsgeheimnis, ich bereise die halbe Welt, jedes Jahr bin ich in Paris, Brüssel, Amsterdam. Fragen Sie, wo Siewollen, nach dem Perlenhändler Gorodotzki, Kinder werden Ihnen Auskunft geben.«
    »Und ich«, sagte Nissen Piczenik, »bin niemals aus unserem Städtchen Progrody herausgekommen – und nur Bauern kaufen meine Korallen. Aber Sie werden mir alle hier zugeben, daß eine einfache Bäuerin, angetan mit ein paar Schnüren schöner, fleckenloser Korallen, mehr darstellt als eine Großfürstin. Korallen trägt übrigens hoch und nieder, sie erhöhen den Niederen, und den Höhergestellten zieren sie. Korallen kann man morgens, mittags, abends und in der Nacht, bei festlichen Bällen zum Beispiel tragen, im Sommer, im Winter, am Sonntag und an Wochentagen, bei der Arbeit und in der Ruhe, in

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