Die Heilerin von Lübeck
noch in derselben Nacht diesem Gut eines holsteinischen Adeligen den Rücken zu kehren. Es musste doch irgendwo eine Stadt geben, in der sie im Jahre des Herrn 1307 ihr Glück machen konnte.
Schon seit langem trug sie sich mit dem Gedanken an Flucht aus einem erbärmlichen Dasein, das ein Leben lang währen oder gar noch schlimmer werden würde. Lübeck, die mit aller Macht aufstrebende Hafenstadt, lockte.
Zwar sollten Gauner, Betrüger, Diebe und Schelme dort den Einwohnern das Leben schwermachen. Aber wo gab es die nicht? Sie würde schon mit ihnen fertig werden.
Am späten Abend schlich Taleke am Wirtschaftshof vorbei und konnte sich nicht zurückhalten, Wilke Voets Köter mit ihrem Pfiff zu reizen, was ganz ungefährlich war, da der Hund an der Kette lief und der Mann wie üblich stockbesoffen zu Bett lag. Dann tat sie den ersten Schritt in die Freiheit.
Der Weg war sumpfig, aber über Taleke flimmerten Sterne, die Karrenspur nach Oldhenkrempe war gut erkennbar, und trotz des frühen Jahres war die Nacht warm. Für den Fall, dass noch andere auf den Gedanken kamen, einen nächtlichen Spaziergang zu unternehmen, hatte Taleke zu ihrer Verteidigung eine grobe Handhacke mit kräftigen Zinken mitgehen lassen. Flüchtig dachte sie an die Wurzelbeete zurück, die sie unter Kraftaufwand mit dieser Hacke aus dem Acker geholt hatte. Nein, sie wollte im Leben auch nie mehr geschmackloses Wurzelbeetemus schlucken, sie wollte speisen wie die reichen Leute im Herrenhaus.
Als sie sich umdrehte, um einen letzten triumphierenden Blick auf die hohen Buchen ihrer Heimat zu werfen, merkte sie die Nässe auf ihren Wangen. Verärgert wischte sie sich die Tränen ab und machte sich wieder auf den Weg.
Der viereckige, stämmige Kirchturm von Oldhenkrempe schimmerte zwischen den schwarzen Baumstämmen hindurch, als sie sich dem kleinen Ort näherte. Es war viel zu früh, um sich jetzt schon zur Nachtruhe zu begeben.
Mit einem bedauernden Blick auf den Turm, dessen Fuß Schutz für ein paar Stunden geboten hätte, schritt Taleke unverdrossen weiter auf dem Karrenweg, der sie nach Neustadt leiten sollte. Im Kopf hatte sie säuberlich gespeichert und geordnet, was sie über lange Zeit durch vorsichtiges Befragen Kundiger zusammengetragen hatte: die ungefährlichsten Wege nach Lübeck, günstige Furten und Fährstellen über die Flüsse und Gewässer, bischöfliche Burgen mit reizbarer Besatzung und besondere Gefahren wie umherstreunende Wölfe und schlechtbezahlte Waffenknechte.
Unverdrossen wanderte Taleke voran, Hügel hinauf und Hügel hinunter, hörte das leise Entenquaken aus der Förde, an der Neustadt liegen sollte, und wusste sich auf dem richtigen Weg.
Neustadt schien ihr günstig für die Nachtruhe, obwohl sie sich, genau genommen, von Schönrade immer noch nicht sehr weit entfernt hatte. Aber wie man ihr erzählt hatte, war der Hafen tatsächlich voll mit Schiffen, sie konnte überall schaukelnde Laternen sehen, möglicherweise von den Holländern, die in Neustadt das Stapelrecht der Lübecker nicht beachten mussten. Es sollte mehrere Kornspeicher geben, in denen das Jahr über Getreide umgeschlagen wurde, und auch andere begehrte Waren wurden hier angeblich angeliefert.
Taleke lauschte. Trotz der inzwischen dunklen Nacht ging es lebhaft zu, höchstens ein wenig gedämpft wegen der Nachtwächter. Das Schwatzen von Stimmen mischte sich mit dem Klappern von Tauwerk an Masten und dem Schlagen von Tuch. Rüsteten sich die Seeleute bereits für den kommenden Tag?
Jedenfalls würde man sie hier nicht finden. Außerdem gab es Menschen, die wach waren und wohl auf einen Hilfeschrei herbeieilen würden. Taleke fand zwischen Fässern einen unordentlichen Haufen Fischernetze, die sie schob und zerrte, bis sie sich ein weiches Nest geschaffen hatte. Ihre Hacke in fester Umklammerung, sank sie zuversichtlich in den Schlaf.
Am nächsten Morgen wanderte Taleke weiter, heiter und guter Dinge stieg sie hügelaufwärts. Sie war ausreichend gesättigt, der Käselaib, den sie aus dem Gut hatte mitgehen lassen, musste bis Lübeck reichen. Buchenhaine und einzelne hohe Eichen lösten einander ab. Gelegentlich sichtete sie andere Wanderer, ausschließlich Männer, aber selbst wenn sie glaubte, in ihnen Pilger zu erkennen, vermied sie es, sich sehen zu lassen, und wartete lieber oder schlug einen Umweg ein.
Dann aber stieß sie auf drei Männer und zwei Frauen, die mit einem Eselskarren unterwegs waren. Die Schellenkappen und
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