Die Herrin des Labyrints
Tischtennis-Stunden und manchmal auch für eine kleine Rauferei. Daneben hatte er aber ein sagenhaftes Talent, sich anderen interessanten Themen gegenüber gelangweilt bis gleichgültig zu verhalten. Lediglich sein Ehrgeiz, in keinem Fach unter Mittelmaß zu liegen, ließ ihn widerwillig Gedichte lernen und Bilder malen.
Mein Sohn war ein Lichtblick in meinem farblosen Leben. Ich liebte ihn sehr, trotz der Erinnerung an seinen Vater, die er immer wieder in mir weckte. Mal durch eine charakteristische Kopfbewegung, mal durch die immer deutlicher werdende Ähnlichkeit in seinen kindlichen Zügen oder den leicht schleppenden Tonfall, den er, warum auch immer, ebenfalls an den Tag legen konnte. Ich bemühte mich aber aufrichtig, ihn mit meiner Fürsorge nicht zu knebeln, sondern ihm so viele Entwicklungsmöglichkeiten zu gebenwie möglich. Bislang hatten wir noch keine ernsthaften Probleme, außer dem einen. Patrick akzeptierte Ulli nicht als meinen Partner. Nicht dass er es deutlich ausgesprochen hätte, aber ich merkte es an seinen Reaktionen. Er war höflich zu ihm, jedoch nie herzlich. Wenn Ulli ihn berührte oder anfasste, machte er sich unwillig los, und selbst wenn Ulli versuchte, mit ihm von Mann zu Mann zu reden, spürte ich eine feine Herablassung in Patricks Verhalten.
Inzwischen war es Nacht geworden, der Mond hing voll und rund über den Dächern. Müßig dachte ich an Nicole, die vor sechs Wochen einen Zauber für mich gewirkt hatte. Wahrscheinlich wäre heute der bessere Termin gewesen, aber da ich sowieso nicht so recht an irgendwelche magischen Kräfte glaubte, konnte mir das letztendlich auch egal sein.
In meinen Gedanken wanderte ich noch einmal zurück zu den letzten Stunden mit der alten Dame, die mir so ans Herz gewachsen war. Und plötzlich schlug die Trauer über mir zusammen.
»Amanda, ach, Amanda, wein doch nicht.«
Ulli legte mir die Arme um die Schultern und zog mich an sich. »Habe ich dir so weh getan mit meinen Worten? Dann entschuldige ich mich, Amanda, meine Liebe. Bitte hör auf zu weinen.«
Ich lehnte mich an ihn, den unverrückbaren Fels in meinem Leben, und ließ mich trösten.
KAPITEL 5
Das Testament
»… erhält Frau Amanda Baptista Ellingsen-Reese diesen Betrag, damit sie meinen Wunsch erfüllen kann und das Kind meiner Tochter Josiane …«
Mehr als verblüfft hörte ich bei der Verlesung des Testamenteszu. Ich hatte die letzten Worte von Gita nicht ganz ernst genommen, ein Wunschdenken einer sterbenden Frau, die Vergangenheit und Gegenwart durcheinanderbrachte.
»Was für ein Unsinn!«, schnaubte Ferdinand leise neben mir. »Als ob du mehr erreichen kannst als dieser Detektiv, den sie damals beauftragt hat. Da ist kein Kind gewesen!«
»Sollte sich meine Enkelin nach Ablauf eines Jahres nicht bei den Testamentsvollstreckern gemeldet und entsprechend ausgewiesen haben, fällt ihr Erbanteil an meinen Sohn Ferdinand.«
Sohn Ferdinand hatte zwar eine unbewegliche Miene aufgesetzt, aber vermutlich war er mit dieser Regelung nicht sonderlich zufrieden. Ich konnte ihn durchaus verstehen. Andererseits keimte ganz plötzlich ein völlig neuer Gedanke in mir auf. Das war eine interessante Möglichkeit, die sich mir da bot. Dann aber überraschte uns der weitere Text von Gitas Testament. Er lautete:
»Über das Vermächtnis meiner Mutter verfüge ich wie folgt: Das Erbe fällt an denjenigen, der das Lösungswort findet, das zu den nachfolgenden Zeilen gehört:
Wer wandert, der findet den Weg, der sich windet.
Den wandelt die Mitte, der lenkt seine Schritte von innen nach außen.
Und wen auf dem Weg das Schicksal berührt, der nenne mir die, die den Tanz anführt.
Der Honig im Topf ist ihr zugedacht, die in der Mitte des Herzens erwacht.«
Gita hatte wahrlich einen skurrilen Sinn für Humor. Sie hatte ihrer Familie ein Rätsel hinterlassen, das, sofern ich die Gesichter der Anwesenden deuten konnte, keinem ihrer Angehörigen auch nur einen Schimmer der Erkenntnis entlockte.
Der Rest des notariellen Wortgeklingels ging ziemlich unbemerkt an mir vorüber, während sich meine Gedanken überschlugen. Als wir das Büro von Dr. Wentz verließen, zog mich Nicole zur Seite in eine halbverdeckte Ecke. Einerseits wollte sie wohl die Begegnung mit Valerie, Nandis Ehefrau, vermeiden, auf der anderen Seite war sie auch entsetzlich neugierig.
»Siehst du, jetzt tut sich was in deinem Leben! Ist das nichtgigantisch?«, flüsterte sie mir zu. »Glaubst du mir jetzt, dass der Zauber
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