Das Erbe der Pilgerin
Kapitel 1
E r wird uns schon nicht gleich aufhängen.«
Gerlin de Loches’ Worte sollten ihren Gatten aufheitern, aber sie klangen eher so, als wolle sie sich selbst Mut zusprechen. Florís’ Miene, die schon während der ganzen Reise von ihrer Burg in Loches nach Paris eine Stimmung zwischen Trauer und Besorgnis ausdrückte, wandelte sich denn auch nur zu einem schwachen Grinsen.
»Da bin ich zuversichtlich«, gab der Ritter schließlich bemüht scherzhaft zurück. »Wir sind von hohem Adel. Wir haben ein Anrecht auf einen Tod durch das Schwert.«
Gerlin versuchte zu lachen. »Ach, Florís, Richards anderen Lehnsleuten hat er auch nichts getan. Im Gegenteil. Bisher wurden alle Treueschwüre huldvoll angenommen. Philipp ist doch froh, dass ihm das Land jetzt ganz ohne Krieg zufällt. Er kriegt genau das, was er wollte. Also warum sollte er dich nicht einfach in deiner Stellung bestätigen und …«
»Mir fielen da eine ganze Menge Gründe ein«, bemerkte Florís und überprüfte wohl zum zehnten Mal den Sitz seines juwelengeschmückten Gürtels über seiner feinen, wollenen Tunika. Er trug sein Schwert, war aber sonst nicht gerüstet. An diesem Tag war er schließlich eher ein Bittsteller denn ein stolzer Ritter und Herr über die Burg von Loches. »Du erinnerst dich nicht an die Schlacht von Fréteval? Und die Sache mit dem Kind?«
»Das ist so lange her …«, meinte Gerlin und musterte die Ausstattung ihres Sohnes.
Der fast zehnjährige Dietmar stand hinter ihnen, ähnlich gewandet wie sein Ziehvater Florís. Gerlin hatte seine Kleider aus dem gleichen edlen Wollstoff geschneidert wie die ihres Gatten, das dunkle Blau passte zu ihrer beider blondem Haar und ihren blauen Augen. Gerlin selbst hatte sich für ein möglichst unauffälliges Kleid entschieden, ein schlichtes, nicht zu weit ausgeschnittenes Gewand in Goldbraun. Ihr prächtiges kastanienfarbenes Haar verbarg sie unter einem strengen Gebende.
»Der König wird sich gar nicht mehr an uns erinnern«, behauptete sie.
Florís sah sie zweifelnd an. Er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand seine Gattin vergessen konnte, der je in ihre strahlenden aquamarinblauen Augen geblickt hatte. Und König Philipp August von Frankreich hatte sie sicher eindringlich gemustert.
»Seigneur et Madame de Loches? Seine Majestät wird Euch gleich empfangen!«
Bevor Florís noch etwas erwidern konnte, öffnete sich die Tür zu den Empfangsräumen des Königs, und ein Diener ließ Justin de Frênes, einen alten Freund und Waffengefährten Florís’, in den Saal, in dem Gerlin und ihre Familie warteten. Justin wirkte deutlich erleichtert. Zumindest ihn gedachte der König wohl nicht zu hängen.
»Wie ist die Stimmung?«, erkundigte Florís sich dennoch besorgt.
Gerlin unterzog ihren Aufzug und den ihres Sohnes noch einmal einer Kontrolle. Nervös tastete sie nach ihrem Hals, an dem an diesem Tag eine schlichte Kette das Medaillon ersetzte, das sie gewöhnlich trug. Eigentlich fühlte sie sich nackt ohne das Schmuckstück, ein Geschenk der Königin Eleonore zu ihrer ersten Hochzeit. Aber zur Audienz mit dem französischen König hatte sie es lieber abgenommen. Sie musste ihm schließlich nicht auch noch Anlass geben, sich an sie zu erinnern …
»Nun, seine Majestät ist bester Laune …«, meinte Justin bitter, »… und äußerst huldvoll gestimmt. Er hat mich kaum auf König Richard angesprochen. Ebenso wenig auf die Umstände, unter denen ich mein Lehen erworben habe …«
Justin war ebenfalls Herr über eine Burg bei Vendôme und hatte sein Lehen kurz nach Florís und Gerlin angetreten. Beide Burgen lagen in den Besitzungen der englischen Könige auf dem französischen Festland. Das Land war einst als Mitgift der Königin Eleonore unter die Herrschaft der Plantagenets geraten, und König Richard Löwenherz hatte es gehalten und gegen jeden Eroberungsversuch der französischen Krone verteidigt. Florís und Justin hatten in König Richards Armee gekämpft und sich dabei ausgezeichnet. Ihr Lohn war ein Lehen in den umstrittenen Gebieten – das sie jetzt seit neun Jahren hielten. Nach einer zwar nicht vernichtenden, aber äußerst peinlichen Niederlage gegen die Plantagenets im Jahre 1194 hatte der französische König keine weiteren Versuche gestartet, seinem Kernland das Vendoˆmois und die anderen Länder einzuverleiben.
Und nun, dachte Florís bitter, überreichen wir sie ihm auf dem Präsentierteller.
»Der Ritter de Trillon …«
Der Diener
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