Die Herrin von Avalon
das Töten vergeblich? Halt mich fest, Viviane, sonst überkommt mich wieder der Wahnsinn. Hab Erbarmen, laß mich wenigstens bei klarem Bewußtsein sterben!«
Sie wußte, daß er sich jetzt an die Priesterin wandte. Wenn sie ihn jetzt im Stich lassen würde, hätte sie ihn tatsächlich verraten. Sie konnte sehen , daß das Leben in ihm wie eine ersterbende Flamme flackerte. Obwohl sie sich an seine Brust legen wollte, nickte sie und erinnerte sich an Dinge, von denen sie gehofft hatte, sie werde niemals dankbar dafür sein, sie gelernt zu haben.
Viviane hielt seine Hände und blickte ihm in die Augen, bis sein Atem im gleichen Rhythmus wie der ihre ging.
»Sei unbesorgt ... « flüsterte sie. »Es wird alles gut. Wenn du ausatmest, laß den Schmerz los ... «
Sein Herzschlag festigte sich, aber er war schwach, sehr schwach. Sie schwiegen eine Weile, dann weiteten sich seine Augen.
»Die Schmerzen sind verschwunden ... meine Königin ... « Seine Augen richteten sich auf sie, doch Viviane glaubte nicht, daß er sie sah.
Ihre Lippen bewegten sich wie von selbst zu einem Gesang, der einst im fernen Atlantis beim Heimgang eines Königs gesungen worden war. Sie spürte, wie sich der Griff seiner Finger um die ihren verstärkte. Dann ließ er ihre Hände los und auch das Leben. Er starb wie ein Mann, der bis zum Ende gekämpft hat und hinter aller Hoffnungslosigkeit seinen Sieg erkennt.
23. Kapitel
»Die Zahl ›eins‹ steht für den Gott, der alles ist ... « Igraines Lächeln wärmte das Herz wie der Sonnenschein. Die Ernte war vorüber, und das Jahr neigte sich Samhain zu. Das Licht am Ufer funkelte und blitzte auf den kleinen Wellen und spielte auf ihren hellen Haaren.
»So ist es, mein Schatz«, sagte Taliesin fröhlich. »Kannst du mir sagen, wofür die Zahl ›zwei‹ steht?« Das Land hinter dem blauen Wasser hatte sich unter dem blassen Himmel in alle Farben des Herbstes gehüllt.
»Zwei, das sind die Dinge, Dinge , in die sich die Göttin verwandelt. SIE erscheint als die Herrin oder die Dunkelheit und der Gott als das Licht.«
»Sehr gut, Igraine!« Er legte die Arme um sie und drückte sie an sich. Wenigstens dieses Kind durfte er lieben.
Sein Blick richtete sich wehmütig auf die andere Tochter, die mit gesenktem Kopf trauernd am Ufer entlangging. Hin und wieder blieb sie stehen und sah hinüber zum Hügel des Wächters, wo sie Vortimer begraben hatten. Beinahe zwei Monde waren vergangen, seit Viviane die Leiche nach Avalon gebracht hatte, und sie trauerte noch immer. War ihr Gesicht deshalb so schmal geworden? Als sie sich umdrehte, hob sich ihre Silhouette dunkel vor dem silbernen Wasser ab, und er sah ihre vollen Brüste.
»Und ›drei‹ ist, wenn die ›zwei‹ ein Kind bekommen!« rief Igraine triumphierend.
Taliesin stieß den Atem in einem langen Seufzer aus. Vivianes Brust war immer fast so flach wie die eines Jungen gewesen. Er schüttelte fassungslos den Kopf. Warum hatte sie ihnen nicht gesagt, daß sie Vortimers Kind im Leib trug?
»War das richtig?« Igraine zupfte ihn ungeduldig am Ärmel.
»Ja, sehr richtig.« Mit fünf war sie so aufgeweckt wie andere, die doppelt so alt waren. Aber in letzter Zeit schien sie immer wieder Bestätigung für ihr Können zu brauchen. Das war früher nicht so gewesen.
»Wirst du Mama sagen, daß ich alle deine Fragen richtig beantwortet habe? Und wird sie zufrieden mit mir sein?«
Die Worte klangen hell und klar in der stillen Luft, und Viviane drehte sich plötzlich um. Ihre Augen begegneten Taliesins Blick, und er sah, wie sich die Trauer darin in stummen Vorwurf verwandelte. Dann wurden sie jedoch wieder sanft. Sie kam schnell herbei und schloß das kleine Mädchen in die Arme.
» Ich bin zufrieden, Igraine. In deinem Alter konnte ich meine Lektionen nicht halb so gut aufsagen wie du!«
Das stimmt nicht ganz , dachte der Barde. Viviane war als Sechsjährige zu Neiten gekommen und mußte bei ihrer Rückkehr nach Avalon alles noch einmal lernen.
»Jetzt darfst du am Ufer spielen und hübsche Steine suchen.« Taliesin beugte sich hinunter und küßte seine Tochter. »Aber geh nicht zu weit und auf keinen Fall ins Wasser.«
»Igraine ist übermütig, und das ist kein Wunder«, sagte Viviane und sah ihr nach. In dieser Jahreszeit bestand jedoch keine große Gefahr. Der Wasserspiegel war nach der langen Trockenheit gefallen, so daß man bis weit hinaus waten konnte. »Ana hat keine Zeit mehr für sie. Ich weiß noch, wie es war, als sie
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