Die Herrin von Avalon
überlassen.«
In der großen Halle duftete es nach Tannenzweigen. Die Druiden hatten sie von den Bäumen geschnitten, die auf dem nächsten Hügel entlang der Kraftlinie wuchsen, die von Avalon hinaus ins Land führte. Die Linie zog sich von Nordosten über den Tor bis an das andere Ende von Britannien, bis zu den westlichen Klippen über dem Meer. Andere Adern der Kraft kreuzten den Tor von Nordwesten und Norden. Aufgestellte Steine, Seen oder Hügel, auf denen meist Kiefern oder Tannen wuchsen, markierten ihren Weg. Caillean war diesen Adern nie gefolgt, hatte sie bei ihren Visionen jedoch mit dem inneren Auge gesehen. An diesem Tag vor der Wintersonnwende glaubte sie zu spüren, daß alle diese Pfade der Kraft stärker als sonst pulsierten.
Nach den Berechnungen der Druiden war es die Nacht der größten Dunkelheit des Jahres. Am Morgen würde die Sonne vom südlichen Himmel zurückkehren. Obwohl ihnen der kälteste Abschnitt des Winters noch bevorstand, konnte man nach der Rückkehr des Lichts hoffen, daß der nächste Sommer wieder auf seinem Weg war.
Unser Wirken hier am Schnittpunkt der Kraft wird die Schwingungen der Energie durch das ganze Land verbreiten ...
Bei diesem Gedanken lächelte Caillean zufrieden. Sie half beim Schmücken der Halle und legte behutsam eine Girlande um einen der Pfosten.
Das gilt für alles, was wir hier tun, nicht nur für das Ritual in dieser Nacht ...
Immer klarer wurde ihr bewußt, daß Avalon, der Zufluchtsort inmitten der Sümpfe, das verborgene geistige Zentrum Britanniens war. Die Römer herrschten von Londinium, dem Kopf, aus und bestimmten das äußere Leben, aber mit dem Dienst an diesem heiligen Ort sprachen die Priesterinnen zur Seele des Landes.
Am anderen Ende der Halle stieß jemand einen durchdringenden Schrei aus, dann sah man Dica, die sich mit hochrotem Gesicht auf Gawen stürzte und mit einem Tannenzweig auf ihn einschlug. Eilned eilte mit finsterer Miene sofort auf die beiden zu, aber Caillean kam ihr zuvor.
»Ich habe ihr nichts getan!« verteidigte sich Gawen und suchte hinter ihrem Rücken Schutz. Aus dem Augenwinkel sah Caillean, daß Lysanda sich unbemerkt davonschleichen wollte, und winkte sie zu sich.
»Die erste Pflicht einer Priesterin ist Aufrichtigkeit«, erklärte die Hohepriesterin streng. »Wenn wir die Wahrheit sagen, dann wird Wahrheit im ganzen Land sein.«
Lysanda wurde rot, blickte verlegen zuerst auf Gawen und sah dann sie an.
»Dica war plötzlich da ... «, murmelte sie fast unhörbar. »Ich wollte ihn mit dem Zweig kitzeln.«
Caillean mußte nicht nach dem Grund fragen. In diesem Alter benahmen sich Mädchen und Jungen wie Hunde und Katzen. Die Unterschiede weckten sowohl Feindseligkeiten als auch größtes Interesse füreinander.
»Ihr seid nicht zum Spielen hier«, sagte sie mahnend. »Glaubt ihr, wir schmücken die Halle mit den Tannenzweigen nur, damit es gut riecht? Sie verheißen in einer Zeit, wenn alle anderen Äste kahl sind, die Fortdauer des Lebens.«
»Wie die Stechpalmen?« wollte Dica neugierig wissen. Der Ärger war verflogen.
»Und wie die Mistel, die durch den Blitz erschaffen wurde und wächst, ohne jemals die Erde zu berühren. Morgen werden die Druiden die Misteln, die sie bei ihren Ritualen brauchen, mit den goldenen Sicheln schneiden.« Caillean sah sich prüfend um. »Wir sind fast fertig. Wärmt euch am Feuer, Kinder, denn die Sonne geht bald unter, und dann werden wir es löschen.«
Die kleine zierliche Dica, die ständig fror, hüpfte ausgelassen zum Feuer, das nach römischer Art in einer Eisenpfanne in der Mitte des Raums brannte. Lysanda folgte ihr. »Du mußt mir sagen, wenn sie dich zu sehr ärgern, Gawen.« Caillean legte ihm die Hand auf den Kopf. »Die Mädchen sind noch jung, und du bist der einzige Junge hier. Ihr solltet öfter miteinander spielen, denn wenn sie erst erwachsene Frauen sind, können sie nicht mehr so sorglos mit dir umgehen.«
Als sie seine Verwirrung bemerkte, sagte sie beruhigend: »Mach dir nichts daraus.« Dann fügte sie hinzu: »Warum gehst du nicht zu Riannon und fragst sie, ob das Honigbrot für das Fest schon fertig ist? Wir Priesterinnen müssen fasten, aber das bedeutet nicht, daß ihr Kinder auch hungern sollt.«
Gawen war noch jung genug, um bei dem Gedanken an frisch gebackenes Honigbrot auf der Stelle zu strahlen. Er lief davon, und Caillean sah ihm zufrieden lächelnd nach.
Ohne Licht wirkte die Halle der Priesterinnen wie eine riesige kalte, dunkle
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