Warum Burnout nicht vom Job kommt. - die wahren Ursachen der Volkskrankheit Nr. 1
Kapitel 1
1.000 nette Leute oder: Der Verdacht
Mit dem üblichen Fehler fing alles an: Ich konnte nicht Nein sagen.
Ich konnte nicht Nein sagen, als mich die Projektentwicklerin einer großen Krankenkasse vor sechs Jahren anrief und bat, ein Seminar zur Burnout-Prävention zu konzipieren. Gedacht sei zunächst an berufstätige Frauen mit Kindern. Sie stünden durch die Doppelbelastung unter besonderem Druck und liefen demnach in besonderem Maß Gefahr auszubrennen. Das schien logisch. Ich hatte bereits eine Menge am Thema „Stressbewältigung“ gearbeitet und sagte zu. Unabhängig von meiner eigenen Arbeitsbelastung, unabhängig von meinen vier Kindern, die alle in einem herausfordernden Alter waren, unabhängig vom Haus, das seit Jahren nach einer Vollzeit-Hausfrau und Bauherrin rief. Aber das Projekt gefiel mir auf Anhieb – und die Arbeit mit Burnout-gefährdeten Männern und Frauen sollte mich bis heute nicht mehr loslassen.
Inzwischen habe ich rund 1.000 solcher Menschen in individuellen Intensivseminaren begleiten dürfen und unzählige direkt vor Ort in den Betrieben. Die sogenannte Primärprävention dauert jeweils eine Woche: Wir arbeiten konzentriert in der Gruppe, intensive fünf Tage à acht Stunden lang. Selten haben sich Menschen so schnell zusammengefunden, so frei ausgetauscht, so weit geöffnet. Ich stieß dabei auf Leitbilder, Muster, die sich immer wiederholen. Aber es kamen auch ständig neue Fragen auf: Wieso brennen die einen aus, während die anderen in der Lage sind, weitaus größere Belastungen wegzustecken? Woher rührt diese besondere Schwäche, die Unfähigkeit, Nein sagen zu können? Wo geht die Energie verloren, über die Zweijährige so selbstverständlich verfügen? „Nein“, sagen sie. Mit aller Macht und der ganzen Kraft ihrer siebzig Zentimeter. „Nein, ich will nicht!“
Je länger ich mich mit diesem Thema beschäftigte, desto stärker wuchsen meine Zweifel an der gängigen Lehrmeinung. Wir glauben ja heute, das Phänomen gut erforscht zu haben. Der wachsende Druck sei schuld, die Verdichtung der Arbeitswelt. Immer mehr Aufgaben sollen in immer kürzerer Zeit erledigt werden. Dennoch muss alles perfekt sein, Fehler werden nicht toleriert. Dazu kommen die Angst vor Arbeitslosigkeit und die unsicheren Märkte: Wer nicht mitspielt, könnte der Nächste sein, der entlassen wird.
Aber stimmt das wirklich? Zumindest Letzteres war bei meinen Teilnehmern nicht der Fall. Der überwiegende Teil war fest angestellt, manche waren sogar unkündbar. Materielle Not litten die wenigsten, im Gegenteil: Viele waren gut situiert, in leitenden Positionen mit entsprechendem Gehalt tätig , viele lebten im eigenen Haus. Und dennoch spürten sie diese große Erschöpfung, das Gefühl, dem Alltag nicht mehr gewachsen zu sein. Sie fühlten sich leer und müde.
Eine einfache Lösung scheint es nicht zu geben. Zum Thema „Stress und Burnout“ ist bereits eine Reihe von Ratgebern erschienen und die Zeitschriften sind voll mit lapidaren Tipps. Da heißt es beispielsweise: „Nehmen Sie doch einmal eine Auszeit. Genießen Sie ein Schaumbad. G önnen Sie sich eine Reise! “ Doch wenn diese Rezepte wirkungsvoll wären, würde sich das Phänomen nicht stetig weiter ausbreiten.
Und die Beispiele sind ganz real. Der Teamleiter einer sozialen Einrichtung, der früher 30 Fälle zu betreuen hatte – mit allen notwendigen Gesprächen mit Klienten und bei den Behörden, der Vor- und Nachbereitung, der Beurteilung des Umfeldes und der Kontrolle –: Er hat heute 90 Fälle auf dem Tisch. Und er trägt viel Verantwortung. Ständig mit der Angst im Nacken, er könnte einen Fehler machen, etwas übersehen, zur Rechenschaft gezogen, im schlimmsten Fall an den Pranger gestellt werden. Oder die Altenpflegerin, die ständig das Handy bewacht. In der Mittagspause, beim schnellen Einkauf im Supermarkt und mit dem Vibrationsalarm abends im Schauspielhaus. Nie kann sie etwas in Ruhe zu Ende bringen, immer wieder wird sie gestört und muss sich unterbrechen lassen. Eltern mit kleinen Kindern erleben das zwar dauerhaft. Sie haben aber zumindest die Gewissheit, dass diese Phase vorübergehen wird. Die Altenpflegerin nicht.
Doch steht die Altenpflegerin wirklich unter diesem Druck? Was würde passieren, wenn sie nicht ständig erreichbar wäre? Könnte sie Stellvertreter benennen, Verantwortung abgeben? Sie kann es im Moment nicht. Doch ist es tatsächlich der äußere Druck – oder steckt der Zwang, sich keinen
Weitere Kostenlose Bücher