Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
Manegenplatz hetzen selbst an Sonntagen Tausende durch die unterirdischen Einkaufspassagen. Sie sind auf der Suche nach Schnäppchen und wirken wie gedopt von der Ideologie des neuen, postkommunistischen Moskaus: dem Streben nach mehr Wohlstand, dem nächstgrößeren Auto, der nächstweiteren Fernreise, den nächsten, noch zwei Zentimeter höheren High-Heels.
Wer dieses Moskau nicht mehr erträgt, muss ins innerste Zentrum der Hauptstadt flüchten: in den Kreml. Selbst an warmen Tagen im Mai, an denen Schulklassen, Reisende aus Tokio, Wuppertal oder Washington sowie Besuchergruppen aus Sibirien in den Kreml strömen, findet sich auf dem 28 Hektar großen Areal immer ein ruhiges Fleckchen. Die bis zu sechseinhalb Meter dicken Mauern aus roten Ziegelsteinen dämpfen den Lärm der Stadt. Unten fließt träge die Moskwa. Auch auf dem Roten Platz direkt neben dem Kreml kann Kraft tanken, wer müde von Moskau ist: vom Befehlston der Behörden, die in Menschen nicht den Bürger sehen, sondern einen Untertan, von der Rücksichtslosigkeit der Moskauer, die einem die Türen zur U-Bahn vor der Nase zuschlagen.
Wenn an langen Winterabenden die 1937 gesetzten rubinroten Sterne auf den Haupttürmen des Kreml im Schneetreiben leuchten, liegt eine majestätische Ruhe über dem Platz. Sie sind aus dünnem Glas, leuchten von innen und haben nach dem Ende der Sowjetunion den Bilderstürmern widerstanden. Auch wenn in Moskau einmal der Strom ausfiele, strahlten die Sterne weiter. Denn die Kremlherren verfügen über eine eigene Elektrizitätsversorgung. Die betreibt auch das Gebläse, das die russische Trikolore über dem Amtssitz des Präsidenten, dem Senatsgebäude, selbst bei Windstille kräftig flattern lässt. Die Nationalfahne schlaff im Wind? Das darf nicht sein im östlichen Riesenreich, das der Welt das geflügelte Wort von den Potjomkinschen Dörfern schenkte und das groß darin ist, glänzende Fassaden zu errichten, hinter denen eine eher graue Realität zu verschwinden scheint.
Im Osten begrenzt den Roten Platz das Kaufhaus GUM , in dem ein Meer westlicher Luxusartikel Reisenden aus Rom oder Regensburg suggeriert, dass in Russland letztlich alles ähnlich wie zu Hause ist. Schließlich gibt es doch Jeans von Dolce & Gabbana zu kaufen, Rolex-Uhren und Lübecker Marzipan. Linker Hand erhebt sich die Basiliuskathedrale, die jeder Deutsche aus den Abendnachrichten kennt. Der Journalist Egon Erwin Kisch beschrieb ihre »bunt gewürfelte Gesellschaft von beturbanten Emiren, Scheichs und Großwesiren«, die über dem Roten Platz ihre Köpfe zusammenstecken.
Im Jahrhundert zuvor schaute der französische Autor Astolphe de Custine so kritisch auf das zaristische Russland, dass sein Buch lange verboten war. Der Kreml rang ihm im Großen und Ganzen Bewunderung ab. Mit Blick auf die Basiliuskathedrale aber stellte er fest, dass »das Land, in welchem ein solches Gebäude Gotteshaus heißt, nicht Europa ist, sondern Indien, Persien, China, und die Menschen, welche in dieser Confiturenschachtel Gott anbeten, keine Christen sein können«.
Zwischen Designeranzügen und orientalischen Zwiebeltürmen geben Roter Platz und Kreml widersprüchliche Antworten auf die Frage nach der Identität des modernen Russlands. An Stelle der Rubinsterne schwebte bis in die dreißiger Jahre der doppelköpfige Zarenadler über den Kremltürmen. Er hat nun auf den Dächern des Historischen Museums seinen Platz gefunden und schaut gleichzeitig in entgegengesetzte Himmelsrichtungen. So manifestiert sich schon im Staatswappen Russlands, in dem seit 1993 wieder der Doppeladler firmiert, seine über Jahrhunderte gewachsene Zwitterrolle. Der größte Flächenstaat der Erde kann sich nicht entscheiden, ob er in erster Linie zu Asien oder zu Europa gehören will.
Kreml und Roter Platz lassen Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen. Nur Voyeure reduzieren den Kreml auf ein Gruselkabinett: in dessen Gemächern einst Iwan IV. , genannt »der Schreckliche«, regierte (1533 bis 1584), der im Zorn seinen ältesten Sohn erschlug; in dem Häscher den falschen Zaren Dmitrij verbrannten und seine Asche angeblich mit einer Kanone in alle Winde zerstreuen ließen; und in dem Josef Stalin nachts mit seinen engsten Mitstreitern Saufgelage feierte, ehe er sie hinrichten und ihre Frauen in Lager verschleppen ließ. »Der Kreml wurde zweifelsohne von einem übermenschlichen Wesen geschaffen, das aber gleichzeitig die Menschen hasste«, schrieb der Franzose de Custine über die
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