Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
und sie zählen, wie Goedsches Judenfriedhofsphantasie, zum geistigen Umfeld, in dem um 1898 das wohl verhängnisvollste aller Wahngebilde entstand: »Die Protokolle der Weisen von Zion«.
Gab es bisher nur Berichte über eine jüdische Weltverschwörung, so konnten die Anhänger des Zaren und der absolutistischen Ordnung nun auf einen Text zurückgreifen, der ihnen suggerierte, das Mitglied einer jüdischen Geheimregierung plaudere selbst aus, wie die »Weisen von Zion« die Macht über den Erdball an sich bringen wollten. Und geschehen sollte das natürlich mit allem, was rechtsnationalen Monarchisten schlaflose Nächte bereitete: geistige Freiheit, Liberalismus und Demokratie. Dadurch könne, so das obskure Papier, in christlichen Ländern Unruhe und Unzufriedenheit gestiftet werden, was es den Juden am Ende ermögliche, Herren über die Welt zu werden.
Die »Protokolle« sind ein wirres Sammelsurium von widersprüchlichen Behauptungen und Forderungen. Präsentiert wird eine Palette von Maßnahmen: Trunksucht und Prostitution seien nach Kräften zu fördern, heißt es da, die christlichen Völker seien aufeinanderzuhetzen und die Volksmassen zu Aufständen zu ermutigen. Und wenn sich die Nichtjuden wehren? Auch daran haben die angeblichen Verschwörer gedacht: »Für diesen Fall haben wir ein letztes, furchtbares Mittel in der Hand, vor dem selbst die tapfersten Herzen erzittern sollen. Bald werden alle Hauptstädte der Welt von Untergrundbahnen durchzogen sein. Von ihren Stollen aus werden wir im Falle der Gefahr für uns die ganzen Hauptstädte mit allen Einrichtungen und Urkunden in die Luft sprengen.«
Wer das Machwerk verfasst hat, ist bis heute unbekannt. Wahrscheinlich ist es ein Produkt der Filiale der zaristischen Geheimpolizei, der Ochrana, in Paris. Historiker Cohn geht davon aus, dass der Chef der Ochrana-Auslandsabteilung, Pjotr Ratschkowski, die Protokolle verfasst hat, doch einen Beweis dafür gibt es nicht. Wichtiger zum Verständnis und besser belegt ist die Entstehungsgeschichte der Fälschung. Zugeliefert hat unfreiwillig ein Mann, der rechtsextremen Neigungen ganz und gar unverdächtig ist: der französische Anwalt Maurice Joly, ein Revolutionär und Freigeist. In seinem Werk »Dialog in der Unterwelt« ließ er Montesquieu als Anhänger aufklärerischer Ideen gegen Machiavelli als demagogischen Verfechter absolutistischer Tyrannei antreten. Joly schrieb eine Streitschrift gegen das autoritäre Regime Napoleons III.
Der oder die Verfasser der »Protokolle« haben die Arbeit des französischen Anwalts offenbar gekannt. Sie verwandelten Machiavellis zynische Worte in Aussagen des »Weisen von Zion«. »Seite für Seite«, so Historiker Cohn, übernahmen sie Jolys Text. 40 Prozent der »Protokolle« stammen aus dem »Dialog in der Unterwelt«. Veröffentlicht wurde die Fälschung zuerst in einer rechtsradikalen russischen Zeitung. Ihr Durchbruch kam 1905, als der religiöse Schriftsteller Sergej Nilus sie als Anhang zu seinem Buch »Das Große im Kleinen« herausbrachte.
Wie Nilus, der über einen befreundeten Priester auch Kontakte zur Schwarzen Hundertschaft hatte, an die »Protokolle« gekommen ist, gehört zu den Geheimnissen, die den Text bis heute umgeben. Sicher ist jedoch, dass er selbst nicht der Autor war. Über seine Frau, eine ehemalige Hofdame der Zarin, hatte der Schriftsteller gute Kontakte zur Herrscherfamilie. Und so hat Nikolai II. die »Protokolle« gekannt und zunächst hoch geschätzt. »Welche Gedankentiefe«, schrieb er an den Rand. Und: »An ihrer Echtheit kann kein Zweifel sein.« Dann jedoch ergaben Ermittlungen zweier Offiziere eines Gendarmenkorps, dass es sich um eine Fälschung handele. Nikolai II. schwenkte um. Bei der antisemitischen Propaganda sollten die »Protokolle« nun nicht länger Verwendung finden, denn, so der Zar: »Eine reine Sache darf man nicht mit schmutzigen Methoden verteidigen.«
»Darüber thront nur Gott«
Kreml und Roter Platz sind seit Jahrhunderten
Kristallisationspunkte russischer Geschichte.
Wer hier richtig hinschaut, erahnt
manche Geheimnisse dieses riesigen Reiches.
Von Mathias Schepp
M oskau, die Metropole, die nie schläft, kennt wenige Ruhepunkte. Wie New York oder Shanghai scheint der 15-Millionen-Moloch mit seinen Zuwanderern und Pendlern jeden Tag aufs Neue vor Energie regelrecht zu bersten. Am Boulevardring vor dem Café Puschkin stauen sich auch nach Mitternacht noch die Autos. An der Westseite des Kreml unter dem
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