Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
Karen Andresen
M an schrieb den 19. April 1903, Ostersonntag, als ein Inferno über die Juden von Kischinjow hereinbrach. Das jüdische Pessachfest war gerade zu Ende, in den Kirchen gedachten die Christen der Auferstehung Jesu. In der bessarabischen Stadt am südwestlichen Rande des russischen Reiches war die Stimmung vergiftet. Die Zeitung »Bessarabets« hatte die Legende von den jüdischen Ritualmorden wiederaufgelegt und die Juden beschuldigt, in der Karwoche ein christliches Kind ermordet zu haben, um das Leiden Christi zu verhöhnen. »Tod den Juden«, hatte das antisemitische Hetzblatt getitelt und zum »Kreuzzug gegen die verhasste Rasse« aufgefordert. Nun zog der Mob los, in der Morgendämmerung zwischen sechs und acht. Jugendliche, Arbeiter, Handwerker versammelten sich in den jüdischen Vierteln. Sie schlugen Scheiben ein, plünderten, zündelten, vergewaltigten, folterten und mordeten. Zwei Tage dauerte das Gemetzel. Am Ende waren 47 Juden tot, 424 verletzt und Hunderte Häuser niedergebrannt.
Der Pogrom von Kischinjow setzte ein Fanal, er war die Wende zu einer neuen Brutalität in der langen Geschichte von Gewalttaten gegen Juden in Russland. Fortan gehörte rücksichtsloser Antisemitismus zum politischen und sozialen Protest. Bis Ende 1904 ereigneten sich 45 Pogrome, zwischen Oktober 1905 und September 1906 waren es 674 Gewaltexzesse mit zusammen mehr als 3000 Toten. Allein in Odessa starben damals etwa 800 Juden. »Bis zum Ersten Weltkrieg«, so der Berliner Antisemitismusforscher Wolfgang Benz, »wurde Judenfeindschaft im russischen Zarenreich mit größerer Vehemenz und Aggressivität praktiziert als in jedem anderen Land.« Die alte, noch überwiegend feudale Ordnung war mit zunehmender Industrialisierung ins Wanken geraten. Eine zutiefst verunsicherte Gesellschaft suchte nach Sündenböcken für alles, was ihr Angst machte. Rechtsnationalistische Publikationen heizten die Stimmung an und fanden reißenden Absatz. 1905 wurde eine Hetzschrift veröffentlicht, derer sich später auch die Nazis bedienten und die als giftiges Erbe der Zarenzeit bis heute zum Repertoire aller antisemitischen Verschwörungstheoretiker zählt: »Die Protokolle der Weisen von Zion«, ein obskures Machwerk über eine angebliche jüdische Konspiration zur Erlangung der Weltherrschaft.
Aus religiösen Gründen wurden Juden in Russland schon von jeher nur ungern geduldet. Wer jüdischen Glaubens war und sich im Reich niederlassen wollte, musste damit rechnen, ausgewiesen zu werden. So hatten die russischen Herrscher bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts kaum jüdische Untertanen. Das änderte sich radikal durch die polnischen Teilungen. Mit den Gebietsgewinnen wechselte auch eine große jüdische Bevölkerungsgruppe ins Zarenreich. Am Ende des 19. Jahrhunderts lebten 5,2 Millionen Juden in Russland, etwa die Hälfte der jüdischen Weltbevölkerung. Es waren meist tiefreligiöse Menschen, die auf diese Weise zu russischen Staatsbürgern wurden. Sie sprachen Jiddisch und unterschieden sich auch in ihrer Kleidung deutlich von ihrer nichtjüdischen Umgebung.
Ihre Vorfahren waren nach den Kreuzzügen und den Verfolgungen ab dem 11. Jahrhundert aus dem Westen Europas gen Osten geflohen und hatten in Polen eine Heimat gefunden – zum Nutzen des polnischen Landadels. Juden verwalteten deren Güter, pachteten von ihnen Mühlen, Bierbrauereien, Gaststätten oder Fischteiche. Sie waren abhängig wie Leibeigene, ausgesetzt der Willkür ihrer Gutsherren, lebten aber dennoch besser als die Juden in Westeuropa. Mit dem Untergang Polens zerbrach diese Welt. Nicht mehr der polnische Landadel bestimmte nun die Geschicke der Menschen, sondern Katharina II. , eine absolutistische Aufklärerin, die sich gerade anschickte, ihr Riesenreich radikal zu modernisieren. Für die neuen Untertanen waren die Folgen verheerend. Die Juden, die meistens auf dem Lande gelebt hatten, wurden nun kurzerhand zu Städtern erklärt.
Ab 1794 war ihnen nur noch erlaubt, in einem sogenannten Ansiedlungsrayon zu wohnen, einem Gürtel von Provinzen, der sich am Rande des Reiches von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer hinzog. Das Ergebnis war ein riesiges Ghetto, das die Juden, so der Historiker Heiko Haumann, »von einigen Ausnahmen abgesehen, bis in den Ersten Weltkrieg hinein nicht verlassen durften«.
Die Lebensbedingungen im Ansiedlungsrayon waren schlecht. Den Juden standen nur bestimmte Berufe offen, sie mussten in manchen Provinzen höhere Steuern zahlen als
Weitere Kostenlose Bücher