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Die Hexe soll brennen

Die Hexe soll brennen

Titel: Die Hexe soll brennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckl
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nieder, raffte den Rupfenumhang so gut wie möglich um sich und begann verwaschen, fast hysterisch, zu beten: »Gebedeit Muttergottes, Domkron, Jumpfengranz geborrn, vergib Unssünden, weil wir Allsündiger, sowiewir Schuldigen sin, und erlöß Unserseelen, bittfüruns und für uns nicht Inversuchung …«
    Immer schneller wurde das Gemurmel der Zwölfjährigen, und während sie es ununterbrochen fortsetzte, begann ihr Oberkörper sich zu wiegen, in einem immer heftigeren, drängenderen Rhythmus. Und dann geschah etwas mit Katharina, das sie an diesem Wintertag nicht zum ersten Mal erlebte, das sie nur zu gut kannte: Jörg, der Großahne, war jetzt wieder bei ihr:
    Während sie immer noch weiter ihre aufgeschnappten Gebetsfetzen murmelte, war Katharinas eigenes Gehirn von der Stimme des Alten erfüllt. Ganz deutlich hörte sie ihn vom Fegfeuer sprechen, von den unerlösten Seelen, die sich nicht aus den Krallen der Peinteufel lösen konnten, von Armensündern, die in der Glut tanzen mußten wie Geier.
    Jetzt bewegte Katharinas Körper sich nicht mehr wie in Verzückung, jetzt lag sie fast auf der Grabstätte, in der Jörg ruhte, dessen Bruder und Schwägerin, drei Kinder dazu, früh am Fieber verstorben – ja, Katharina wußte um den Tod. Völlig unkindlich hatte sie ihre Eltern schon mit sieben Jahren, gleich nach dem Ableben Jörg Gruebers, immer wieder über diese Dinge befragt. Daß sie mit den Toten sprechen konnte, wußte außer ihr freilich keiner. Das blieb ihr Geheimnis; sie teilte es nur mit dem einen, der hier unter der Erde lag.
    »Gebedeit«, sang Katharina, den Mund nur spannenbreit über gefrorenem Erdreich, »Allsündiger, sowiewir Schuldigen sin, erlöß Unserseelen.« Katharinas Lippen berührten flüchtig die Graberde. »Erlöß Unserseelen aller, aller, aller …«
    In diesem Augenblick geschah es, und die Stimme des verstorbenen Jörg Grueber war so deutlich, daß Katharina meinte, er hielte sie wieder auf seinem Schoß. »Auer«, sagte die Stimme fordernd, »die Auerin, die unerlöste Seel! Nur du allein kannst sie aus dem Fegfeuer erlösen!«
    Dann Stille, eine fordernde Stille, die wie ein Fanal über immer schemenhafter werdenden Gräbern hing. Die bucklige Friedhofsmauer vornübergeneigt, als horche sie angespannt. Und drüben in der entgegengesetzten, der Südostecke des Gräberfelds die kleine Kirche mit den schmalen gotischen Fensterschlitzen und dem Turm, der wie ein mahnender Finger in den bleigrauen Himmel ragte.
    Katharina zitterte, als sie sich auf die Knie erhob, mühsam ganz aufstand. Sie wußte genau, welche Botschaft sie erhalten hatte. Die Auerin war noch keine sechs Wochen tot. Dort drüben, in der anderen Ecke des Friedhofes, lag sie unter noch frischem Hügel, und ihre arme Seele wurde im Fegefeuer gepeinigt. Und nun hatte sie über den Jörg Katharina gerufen.
    Die Angst der Zwölfjährigen wich einer beinahe besinnungslosen, mystischen Freude. In schweren Holzkloben lief Katharina Grueber hinüber zur Kirche, streifte mit der Schulter frostgesprengtes Mauerwerk, so daß sich ein Mörtelbrocken löste, achtete nicht darauf, bog um das Nordosteck. Hier, auf der Altarseite, lagen die Gräber der wohlhabenderen Bauersfamilien, und vor der letzten Ruhestätte der Auerin sank Katharina erneut auf die Knie. Der Grabhügel lag wuchtig da; es morschte hier auch kein Holz, sondern ein Kreuz aus Schmiedeeisen beherrschte den Platz, schwarzlackiert, die Arabesken und Zierblätter bauernplump aus dem Metall gehämmert. Eine Tonvase war zu Füßen des Grabes in die Erde gedrückt, und darin standen streng riechende Zweige, Überbleibsel des vorjährigen Palmsonntags. Der von ihnen ausströmende Geruch nach Moder und Verwesung wirkte auf Katharina wie Rauschgift. Wieder begann das Mädchen mit hin und her wiegendem Oberkörper seine sinnlosen Gebetsfetzen zu murmeln.
    Lange murmelte und wiegte sich das Mädchen, die Dämmerung wich der Nacht, aber dann vernahm Katharina die Stimme ganz deutlich: ein wehes Wispern und Flüstern, unsagbar leise und doch schrecklich schrillend, ein bitteres Flehen, dem unmöglich zu widerstehen war. Die Qualen des Fegefeuers hörte Katharina aus diesem Sumsen und Flennen heraus, das Fauchen der Flammen, das Zischen aufplatzenden menschlichen Fleisches, den Schrei, den schrecklichen Schrei nach Erlösung.
    Das verwirrte Mädchen betete gegen all dies Unnennbare an, betete dagegen an mit seiner ganzen Kraft, kämpfte die unsagbaren Qualen der Toten

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