Die Hexe soll brennen
das Unglück hin wie alles, was dieser Krieg ihnen bereits gebracht hatte: mit einem bäuerlichen Fatalismus, wie er in seiner Art einzig ist. Jörg aber war anders; er irrte stundenlang über die nassen, lehmschweren Felder oder verbrachte ganze Tage auf dem Friedhof, von wo ihn dann nicht einmal der Ortsgeistliche vertreiben konnte. Der ehemalige Soldat, der nach wie vor allein bei seinem Bruder hauste, wurde immer seltsamer und verschlossener, und auf diese Weise verstrichen weitere vier Jahre. Dann, 1644, lebte er ein wenig auf, denn seinem Bruder und dessen Weib wurde ein Nachzügler geboren. Sie nannten den Jungen Johann nach einem seiner bei der Seuche umgekommenen Brüder, und die Kindheit des Katenerben fiel bereits in den Frieden.
Zuerst drang die Kunde von den Geschehnissen in Westfalen nur zögernd nach Geisling, doch dann begannen die Dörfler allmählich zu glauben, daß die Großen sich endlich versöhnt hatten. Denn im Jahr 1648 und auch im folgenden Jahr zeigten sich im Donaugäu keine Marodeure mehr, nur gelegentlich ließen sich Bettler im Dorf sehen: Nachzügler des Krieges, oft entsetzlich verstümmelt. Man gewöhnte sich auch an sie, teilte das spärliche Schwarzbrot mit ihnen oder verjagte sie, und so kam schließlich das Jahr 1671 herauf.
Als siebenundfünfzigjähriger Junggeselle war Jörg Grueber bei der Heirat seines Neffen Johann mit der um ein Jahr älteren Gertrud aus dem Nachbardorf Pfatter zugegen. Das Paar übernahm die Kate; die alten Häuslerseheleute zogen sich in den Austrag zurück. Die Jungen erlaubten auch Jörg das Bleiben. Er hauste weiterhin still und unauffällig auf seinem Plätzchen zwischen Feuerstelle und lehmverstrichener Wand, wo er einst als fieberkranker Fahnenflüchtiger gelegen hatte.
Im Jahr 1672 erlebte Jörg die Geburt Balthasar Gruebers mit; ein Jahr später stand er am Grab seines Bruders, dem schon wenige Monate danach auch die Schwägerin nachfolgte. Sie hatte mutig das Leid eines ganzen Lebens, das Sterben dreier Kinder, ertragen, doch das Abscheiden des Menschen, mit dem sie all dies geteilt hatte, hatte sie nicht mehr verwinden können.
Auf diese Weise wurde Jörg so etwas wie der Großvater des kleinen Balthasar, und als im Jahr 1676 das Mädchen Katharina geboren wurde, sah man zum ersten Mal seit dreiundvierzig Jahren so etwas wie ein Lächeln auf dem immer noch hageren Gesicht des nun dreiundsechzigjährigen Mannes. Jörg Grueber nahm sich der Kleinen von Anfang an in ganz besonderem Maße an. Er schaukelte Katharina stundenlang auf seinem Schoß, und als das Kind ihn verstehen konnte, erzählte er ihm Geschichten. Dem Mädchen war der Inhalt dieser Geschichten allerdings weniger wichtig als die Geborgenheit, die es in den Armen des alten Mannes fand. Diese Geborgenheit genoß Katharina mit allen Fasern – was Jörg sagte, nahm sie eher unbewußt auf.
Als Jörg Grueber im Jahr 1683 an einer Lungenentzündung starb, war die siebenjährige Katharina für ihr ganzes weiteres Leben geprägt.
Die armen Seelen
Januar 1689
» Warumben Sie vermain , das sie hierher gefireth worden?«
(Kelheimer Hexenhammer, Absoluta generalia circa Confessionem)
Das zwölfjährige Mädchen war mager; es huschte durch die hereinbrechende Abenddämmerung dieses Januartages wie ein scheues, ausgehungertes Frettchen. Die Holzschuhe kratzten auf der steinharten Erde; die nackten Füße waren blaugefroren und wirkten in den derben Kloben besonders zerbrechlich. Der zerlöcherte Umhang des Mädchens bestand lediglich aus ungefärbtem Rupfen, und auf seinem Gesicht mit den unkindlich tiefliegenden Augen lag ein sonderbarer Ausdruck, halb Furcht, halb uneingestandene, unbewußte Gier.
Im Dorf war zu diesem Zeitpunkt niemand sonst unterwegs, und so konnte die kleine Katharina Grueber ungesehen das schmiedeeiserne Tor zum Friedhof aufstoßen, das Durchlaß durch eine unregelmäßig geschichtete Mauer aus grauen Bruchsteinen gewährte.
Kreischend sank das Tor zurück ins Schloß. Das Mädchen verharrte kurz und wandte sich dann mit kleinen, vorsichtigen Schritten nach rechts, wo die Armengräber sich unter schief stehenden Holzkreuzen zusammendrängten. Katharina vermied geschickt einen Platz, wo ein Haufen Steine aus der Mauer gebrochen war, dann hatte sie die gesuchte Stelle erreicht: einen unregelmäßig geformten Hügel dürrer Erde, auf dem in einem Wust vermorschten Holzes nur noch ein einziges Kreuz aufrecht stand. Hier kauerte das Mädchen sich auf die Fersen
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