Die Hüter der Schatten
Aussage der alten Frau und des Beamten haben Ron und Joe die jungen Leute schockiert. Schockiert! Dabei waren diese Teenies so sehr miteinander beschäftigt, daß sie nicht mal mitgekriegt hatten, wenn der Präsident persönlich es auf der Bühne mit einem Esel getrieben hätte. Jedenfalls haben wir endlich erreicht, daß die Klage abgewiesen wurde. Aber Ron hat mir leid getan. Die Zeitungen haben über den Fall berichtet, und Joes Eltern hatten keine Ahnung, daß ihr Sohn schwul ist.«
»Da kann man ja von Glück sagen, daß der arme Kerl nicht auch noch in den Knast gesteckt wurde.«
»Stimmt. Auch wenn Joe allenfalls im Bezirksgefängnis gelandet wäre. Erregung öffentlichen Ärgernisses gilt nur als Vergehen. Das eigentliche Verbrechen hat diese alte Frau begangen, nämlich, wegen der Sache überhaupt Anklage zu erheben. Einfach lächerlich. Idiotisch!«
»Solche idiotischen Fälle scheint’s öfter zu geben«, meinte Leslie. »Eine Freundin meiner Mutter ist mal knapp einer Verhaftung entgangen, weil sie im Supermarkt ihr Baby gestillt hat. Das arme Kind war hungrig und schrie wie am Spieß. Das ist natürlich schon eine ganze Weile her. Mom hat mir die Geschichte erzählt, als ich zwölf war.«
»Nun ja, ich kann mir passendere Orte zum Stillen vorstellen«, meinte Joel. »Wenn wir selbst mal Kinder haben, erledigst du so was hoffentlich in heimischeren Gefilden, Schatz.«
Leslie errötete und lächelte Joel an, der sich Salat in den Mund schaufelte. »Oder du setzt dich in den Wagen.« Er kicherte. »Da fällt mir ein Fall ein, den wir letztes Jahr verhandelt haben. Ein Typ war splitternackt mit seinem Auto an die Mautschranke auf der Bay Bridge gefahren. Der Richter hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, das Innere eines Wagens sei juristisch mit einer Privatwohnung gleichzusetzen – deshalb genieße jedermann das Recht, sich in seinem Auto zu kleiden oder zu entkleiden, wie es ihm gefällt. So will es das Gesetz.«
»Lex dura; lex est«, zitierte Leslie schmunzelnd.
»Ich frage mich nur«, meinte Joel, »wie der nackte Kerl an der Mautschranke die Autobahngebühr bezahlt hat.«
»Weißt du, diese alten Frauen, die sich über alles mögliche beschweren«, sagte Leslie, »sind im Grunde kränker als die Menschen, die sie vor Gericht zerren. Aber wir machen Fortschritte. Zumindest ist dein Freund Hanrahan nicht im Gefängnis gelandet. Was wäre wohl passiert, wenn er an einen Richter geraten wäre, der sich durch zwei händchenhaltende Männer in seiner eigenen Sexualität bedroht gefühlt hätte?«
»Daran möchte ich nicht einmal denken«, gab Joel zurück. »Aber manchmal hat das Ganze auch seine komischen Seiten. Nick hat mir kürzlich am Telefon von einer anderen verrückten Geschichte erzählt. Offenbar sollte er vor Ort einer Beschwerde nachgehen. Wieder von einer alten Dame, die sich durch einen Hausbewohner belästigt fühlte, der angeblich nackt in seinem Apartment herumlief. Also ist Nick losgefahren, um diesem Nudisten auf den Zahn zu fühlen …«
Leslie lehnte sich zurück, lauschte Joel und dachte an dessen Bruder Nick, der sie beide zusammengebracht hatte. Als der Skandal damals ausuferte und Leslie aus Sacramento fortgezogen war, hatte Nick einen Möbelwagen gemietet, Leslie nach San Francisco gefahren und Joel zum Auspacken bestellt. Nachher hatte er vorgeschlagen, Joel solle Leslie zum Abendessen ausführen. Wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, daß sich zwischen den beiden ein ähnliches Bruder-Schwester-Verhältnis entwickeln würde wie zwischen ihm und Leslie, aber sie hatten sich verliebt.
Vielleicht war Leslie damals – passend zu ihrem neuen Leben – auch für einen neuen Mann bereit gewesen. Alt genug, um endlich zur Ruhe zu kommen, wie ihre Mutter gemeint hatte. Nach ihren Begriffen war Leslie mit ihren siebenundzwanzig Jahren beinahe schon eine alte Jungfer. Und Joel, der vielversprechende junge Anwalt, wäre Mom bestimmt noch lieber gewesen als ein Polizist, der ihrer Tochter gegenüber wie ein Bruder empfand. Obwohl sie zweifellos Joels Engagement in einem »skandalösen« Fall wie der Verhaftung von Ron Hanrahan mißbilligt hätte.
„… und der Mann sagte: ›Madam, würden Sie mir bitte zeigen, von wo aus Sie mich angeblich nackt in der Wohnung gesehen haben?‹ Natürlich konnte die alte Schnepfe nur etwas erkennen, wenn sie sich buchstäblich die Nase am Fenster des Mannes plattdrückte. Also hat der Nachbar den Spieß umgedreht und die Alte als
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