Die Hueterin der Geheimnisse
Dafür spürte er die Kraft anschwellen
und abschwellen. Er schloss die Augen und konnte es nun klar erkennen: Es war wie Wasser, das in einen Strom floss und von einer starken Strömung umgedreht wurde. Der Wasserfluss schwoll an, kam aber nicht voran. Die Gegenströmung war zu stark. Ash merkte, wie ihm der Schweiß über Nacken und Stirn rann, so viel Kraft strömte hier. Es war so viel, dass das Gefäß Gefahr lief, alle Energie zu verlieren, und dann hätten sie es mit zwei Leichen zu tun. Weil es nicht funktionierte.
Brambles Atem setzte aus.
Die Quelle der Geheimnisse wurde leichenblass und geriet ins Taumeln. Um nicht zu stürzen, hielt sie sich an der Tischkante fest. Der Mann sprang zu ihr, um sie zu stützen. Währenddessen krochen die roten Streifen wieder Brambles Arm hinauf, doch das Mädchen lag nur da, reglos wie ein Stein.
Die Heilerin löste sich von dem Mann. Entschlossen wandte sie sich dem Tisch zu und legte ihre Hände auf Brambles Schulter.
Ash trat vor, stellte sich neben sie und legte seine Hand auf die ihren. Warum, wusste er selbst nicht so genau, er war jedoch davon überzeugt, dass er es tun musste, überzeugt aufgrund seiner seherischen Fähigkeiten und aufgrund von noch etwas anderem, das ihm vertrauter war als diese, nämlich des Instinkts und der Verbundenheit eines Kämpfers.
Dieses Mal erklang das Lied der Quelle der Geheimnisse lauter, wie ein Ruf zu den Waffen. Ihr stand der Schweiß auf der Stirn, und ihre Hände zitterten, doch sie fuhr mit dem Singen fort. Das Lied nahm an Tonhöhe und Lautstärke zu, bis das Zuhören Schmerzen bereitete. Ash erschauerte und fühlte sich schwach, wusste jedoch nicht, ob dies nur an dem Geräusch lag oder ob ihm Kraft entzogen wurde.
Als er die Augen schloss, merkte er, dass beides der Fall
war und dass auch das Lied selbst ihm Stärke entzog. Er spürte, wie er schwächer wurde, begriff jedoch, dass dies nicht reichte. Dass Bramble tot war.
Die Quelle der Geheimnisse hörte auf zu singen.
Seine Kräfte schwanden, und Ash wäre fast ohnmächtig geworden, und er fürchtete schon, er werde das Gleichgewicht verlieren. Dann aber merkte er, dass ein Körper ihn am Rücken stützte, und er richtete sich auf, stand nun wieder auf festen Beinen. Energie strömte durch ihn hindurch und in die Quelle der Geheimnisse. Diese begann erneut zu singen, lauter noch als zuvor.
Bramble hustete und fing wieder zu atmen an. Ihre Augen blieben geschlossen, doch sie sagte: »O Maryro-ose!« in der Stimme eines jungen Mädchens, das sich darüber beklagte, etwas tun zu müssen, was es nicht tun wollte - ihr Zimmer aufräumen vielleicht.
Die Quelle der Geheimnisse sang weiter, wobei ihre Stimme plötzlich flüsternd und bittend klang. Die Wunde fing erst an, zu eitern und dann sofort zu verheilen; Wochen der Heilung spielten sich vor ihren Augen binnen weniger Momente ab. Doch es war noch viel mehr als Heilung, da die Wunde als solche spurlos verschwand. Dann erstarb der Singsang, und auf Brambles Arm blieb kein einziges Mal zurück, nicht einmal eine Narbe, die angezeigt hätte, wo sie verletzt worden war.
»Sie wird die Nacht durchschlafen und hungrig aufwachen«, sagte die Quelle der Geheimnisse mit vor Erschöpfung undeutlich klingender Stimme. Anerkennend gab sie Ash einen Klaps auf den Arm, woraufhin er beinahe umgefallen wäre. Der große Mann führte sie weg, eine Treppe hinauf. Sie reichte ihm nur bis an die Brust. Eine große Frau war sie nicht, nicht hübsch, nicht eindrucksvoll oder elegant oder mütterlich, besaß überhaupt nichts von dem, was
Frauen in aller Welt eine bestimmte Anziehungskraft verlieh. Abgesehen von ihren außergewöhnlichen Augen war nichts Auffälliges an ihr. Aber da lag nun Bramble, dachte Ash, gesund und ohne Narbe. Und er selbst zitterte nach wie vor.
Als die beiden die Windung der Treppe erreichten, fand Martine ihre Stimme wieder. »Danke«, sagte sie. Ihre Miene verriet, dass sie wusste, wie wenig diese Worte ausreichten. Die Quelle der Geheimnisse lächelte sie schief an, womit sie sowohl Martines Dank annahm als auch zum Ausdruck brachte, verstanden zu haben, dass diese mehr damit sagen wollte. Dann ging sie weiter die Stufen hinauf. Der Mann blieb auf dem Treppenabsatz stehen und schaute ihr nach, bis sie hörten, wie oben eine Tür geschlossen wurde.
»Die meisten Leute finden die Sprache so schnell nicht wieder«, sagte der Mann. »Ihr wird nicht viel gedankt.« Ob er dies für gut oder schlecht hielt, ging
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