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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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Heiß und Kalt, Naß und
Trocken, Getanes und Ungetanes vereinst...« Die rechte Hand hob sich und gab
ein Kommando mit dem Tuch. Aber ich hatte in den Schwingungen der Musik bereits
gespürt, daß etwas vor uns lag und war vorbereitet: runter, Schub, hoch,
warte... warte... runter, Schub, hoch! Ich hätte weinen können vor
Enttäuschung. Aber diesmal gewann Kuan keinen Vorsprung vor mir. Wir umschifften
im Gleichklang die Klippe, aber zu spät, zu spät. Der Abstand von zehn Fuß
blieb.
    »Herrin der Ersten
Stunde... Wächterin über das Größte Opfer... Trost aller Kranken und
Sterbenden...«
    Wir waren an einer Klippe
vorbei in sengendes Sonnenlicht geflogen, das den Himmel in Feuerschein
tauchte. Schwarze Wasserspeier schoben sich aus gischtigen Regenbogenwellen,
und ein Drachen bäumte sich vor meinen Augen aus dem Wasser auf, ein Kiao
lung, der zu den fürchterlichen, nicht zu den wohltätigen Wasserdrachen
gehört. Gräßliche Wesen hatten vom linken Ufer Besitz ergriffen. Am rechten
Ufer riß der unbarmherzige Gelbe Wind Hütten auseinander, der Sand begrub alles
unter sich, und das Getreide welkte und verbrannte.
    »Herrin der Trauer...
Herrin des Trostes... Herrin, die Alles Lebende beschützt«, intonierte Meister
Li.
    Ich hörte Schreie aus der
Luft, und als ich aufblickte, erkannte ich die schrecklichsten aller Geschöpfe,
die dreigeflügelten Diener der Schutzpatronin der Pestilenz, die einst einem
Ritter erlaubt hatte, sie zu lieben, die Göttliche Königinmutter des Westens.
Diejenigen, die diese Dame kennen, würden sagen, daß ihre Klauen den Ritter nur
sehr zart berührt hatten. Vom Berg der Drei Gefahren waren der Große Pelikan
herbeigekommen, der auf dem Rücken Yu Hau-lung, die pestilenzbringende Hexe,
trug und der Kleine Pelikan, der Tou-shen Niang Niang, die Pestkönigin, trug
und der Große Vogel, auf dessen Rücken Ma Shen, die Patronin der Pusteln und
Pockennarben, ritt. Die drei Todesvögel stürzten sich kreischend herab, und
einen Augenblick lang setzte mein Herzschlag aus, als ich glaubte, eine riesige
Tigerkralle zu sehen, die den Himmel von Horizont zu Horizont aufriß, doch dann
erkannte ich, daß es die Klaue des Gelben Windes war.
    Das Tuch gab sein Kommando,
und die Schlaghölzer dröhnten. Runter, Schub, hoch. Warte... warte... runter,
Schub, hoch. Die beiden Boote beschrieben den Bogen gleichzeitig, doch das
Yang-Boot hatte immer noch zehn Fuß Vorsprung, und mir krampfte sich der Magen
zusammen. Diese letzte Felsenklippe war über und über mit Yang-Symbolen
bedeckt. Es war die letzte Gnomon-Markie-rung, und die Kraft des Yang mußte
jetzt Yin weichen, sollte die Erde nicht verbrennen und sollten nicht Pest und
Seuche ihr Unwesen treiben. Da unser Boot in weitem Bogen herumgeschwungen war,
hatte ich einen Blick nach vorn werfen können. Ich hatte einen weißen
Lichtstreifen gesehen, der quer über dem Band des aus Musik entstandenen
Stromes lag. Dort, wo die Ziellinie näher rückte, verengte sich der Fluß, und
genau in der Mitte schwebte ein schimmernder Ring in der Luft. Es war Pi, das Symbol der himmlischen Harmonie, der nahtlose ewige Ring des Yang und Yin,
und die langen, schlanken Drachenhörner am Bug der beiden Boote glühten im
selben Schimmer auf. Meister Li und Neid ließen ihre Tücher mit weitem Schwung
flattern, Trommeln und Schlaghölzer hämmerten wie gewaltige Herzschläge, und
die Ruderer legten unter lautem Keuchen auch noch das letzte Quentchen Kraft in
ihre Schläge. »Herrin des Trostes, Herrin der Läuterung...« Welche Göttin
Meister Li auch im Sinn haben mochte, sie sollte sich besser beeilen, denn die
Ruderer im Yang-Boot standen unseren an Kraft nichts nach, doch der Abstand
wurde nicht geringer. Ich flog förmlich in der Bemühung, das Boot mit dem
Steuerruder in vollkommener Balance zu halten, während es über gewaltige Wellen
hüpfte, klatschte und dahinschoß, und als das Wasser zwischen unserem und Neids
Boot zu brodeln begann und etwas aus der Tiefe auftauchte, war ich viel zu
beschäftigt, um genau zu erkennen, was es war. Doch dann sah ich es.
Schlagartig wurde mir klar, daß Meister Li überhaupt nicht zu einer Göttin
gebetet hatte. Vom ersten Moment an hatte er eine Priesterin, eine Heilerin, eine
Schamanin angerufen, und dort, aus dem Regenbogenwasser, tauchte jetzt der Kopf
von Yu Lan auf.
    Die schöne Tochter des
Puppenspielers blickte mich lange an. Ihre Lippen öffneten sich über
glitzernden Fängen, und eine Krallenhand hob

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