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Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Titel: Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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hinzuführen. Die Farbe des Ewigen Schnees ist das Weiß des aufgeworfenen Schaums; das dunkle Blau der augenblicklichen Wellenhöhlung dasjenige des Bergleibs. Die Welle im Vordergrund wiederholt – mit Unregelmäßigkeiten – die erstarrte Welle des heiligen Bergs. Und während das vordere Boot die flüchtig-rohe Naturform durchbricht, scheint das hintere Boot durch die dauerhaft-sanfte Form des verkleinerten Fuji zu stoßen. So scheint es nur, doch dieser Schein erhellt das ganze Bild. Auch die Samurai-Boote mit ihren Rudermannschaften sind nur scheinbar verloren – mit dem Zusatz: wäre das kein Wellengang, sie wären nicht minder scheinbar in Sicherheit.
      Das »Nur« an dieser Scheinbarkeit ist offenbar unzureichend und entspringt einem westlichen Seh-Fehler. Schein ist alles – die Sturzwelle wie der Fuji, die Illusion der Rettung wie die Illusion des Verlusts. Davon aber – »aber«? – wird das Scheinhafte nicht irreal. »Sein« und »Schein« sind falsche, weil voreilige Alternativen, Konstruktionen eines gestörten Blicks. Das Bild ist lauter action und vollkommene Ruhe. Was es darstellt, ist alles, was wir sehen – aber in dem, was wir sehen, ist alles zugleich anders und mit dem, was wir sehen, vollkommen identisch.
      Für diesen Sachverhalt hat das westliche Denken keine Begriffe – es sei denn anspruchsvollmystische, die auch da noch etwas ordnen möchten, wo alles aufhört. Hokusais populärer Farbholzschnitt erklärt ohne Pathos, daß in der Gegend, für die uns der Begriff fehlt, Alltag herrscht: Die Selbstverständlichkeit der ausreichenden Erfahrung. Sie nimmt im Entgegengesetzten keinen Widerspruch mehr wahr. Sie sieht in Woge und Berg, Leben und Tod, Sein und Nichtsein das Offenbare Geheimnis der Identität. Was für uns kaum erschwingliche – oder geheimnistuerische – Weisheit wäre: hier liegt es am Licht; hier wird es zum Bild. Dieses war im alten Japan keine hohe Kunst. Und doch war es ein Bild für nichts anderes.
      Die japanische Tradition kannte so wenig wie die unsere im Mittelalter eine Zentralperspektive. Sie situierte die Gegenstände nach ihrem Wert für den Betrachter. Der große Fuji: unberührt von der Wellengewalt. Die Bootsleute: klein vor beidem. Die Boote: groß im Kampf mit dem Element. Klein und groß: gleich viel.
      War mein Gymnasiastenblick auf Hokusais »Fuji, von Kanagawa aus betrachtet« doch der genauere gewesen? Damals war mir der Fuji so gut wie entgangen, vor lauter Wellen. Aber um auf das falsche Richtige von einst zurückzukommen, mußte ich später doch erst das richtige Falsche begriffen haben.
      Damit der Fuji sich bewegen kann, muß die Welle das Stillstehen lernen.
      Wo aber ist Kanagawa? Auf dem Bild Hokusais ist nichts davon zu sehen. Das kann nur heißen: der Ausblick von Kanagawa ist von jedem Auge besetzbar, und bleibt offen, an allen Orten der Welt.

    Japan – Versuch eines fraktalen Porträts

      »Was fruchtbar ist, allein ist wahr« – wären Goethes Sätze dafür gut, unbedenklich nachgebetet zu werden, so könnten wir’s uns mit unserem Japan-Bild bequem machen. Denn seit Kolumbus auf dem karibischen Guanahani das Land der Goldenen Dächer suchte, das sagenhafte Zipangu aus Marco Polos Erzählungen; seit westliche Entdecker unbekannte Küsten, nur für sie Neue Welten, mit ihren Träumen, Projektionen, Feindbildern bevölkern: seit einem halben Jahrtausend also sind die Mißverständnisse, die sie dabei erzeugten, jedenfalls eins gewesen: fruchtbar – im Sinn von folgenreich – für beide Teile. Fruchtbar, ja – aber, mit einer kleinen Lautverschiebung, furchtbar auch.
      Denn wo die Westmänner landeten, da veränderten sie diese Fremde nach ihrem eigenen Bild; da bogen sie, was sie sahen, mit Gewalt zurecht, bis es ihrer Vorstellung entsprach. Und wollte sich der Gegenstand ihres Interesses diesem gar nicht fügen, so löschten sie eher den Gegenstand aus, als daß sie ihr Interesse erzogen, entwickelt – oder gar beiseite gestellt hätten. Denn ihre Eigenmacht, und zwar in der massivsten Form, war das Maß aller Dinge; und sie, sie allein, waren der voll entwickelte Mensch, der dieses Maß über alle andern verhängen durfte, ja zu verhängen verpflichtet war.
      Der befugte Kolonialherr und der heilbringende Missionar: das war das Doppelgesicht, das der Weiße Mann allem zuwendete, was nicht war wie er; und das hieß: was der Zivilisation, der Fürsorge, der Anleitung und Zurechtweisung bedürftig

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