Die Jaegerin
Fahrt mit erheblicher Verzögerung fortgesetzt. Zu Alexandras Erleichterung war der Baum bisher das einzige Hindernis auf einer ansonsten ereignislosen Reise gewesen. Vielleicht war es gerade diese Ereignislosigkeit, die ihre Unruhe steigerte. Es gab nichts, was sie von ihren sich unaufhörlich im Kreis drehenden Gedanken ablenken konnte.
Wochenlang waren sie in London gewesen, ohne die geringsten Anhaltspunkte zu finden. Erst die Gerüchte aus Edinburgh hatten Alexandra und ihre Begleiter aufhorchen lassen. Die Morde passten exakt ins Bild. Da es in London ohnehin nichts mehr gab, was sie weitergebracht hätte, waren sie mit der ersten Postkutsche gen Edinburgh aufgebrochen. Mit jedem Tag, dem sie ihrem Ziel näher kamen, wuchs Alexandras Rastlosigkeit. Der drängende Wunsch, endlich am Ende ihrer langen Suche anzukommen, mischte sich mit der Befürchtung, lediglich einmal mehr auf eine erkaltete Spur zu treffen, die sie nur an einen weiteren Ort führen würde.
Während sie noch ihren Gedanken nachhing, veränderte sich plötzlich etwas. Es war, als sengte sich ein Paar Augen in ihren Leib. Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass es nicht die übliche nächtliche Kälte war, die sie frösteln ließ. Sie kannte dieses Gefühl. Etwas war in der Nähe der Kutsche! Im selben Moment begannen die Pferde unruhig zu werden. Ihr Wiehern und Schnauben waren bis ins Innere der Kabine zu hören, ebenso wie die erstaunten Rufe des Kutschers und das Knallen der Peitsche, als er versuchte die Tiere zur Ruhe zu zwingen. Schlagartig hellwach öffnete Alexandra die Augen und setzte sich auf. Den Mantel, den Gavril ihr übergelegt hatte, streifte sie ab. Die Unterhaltung der Männer war ins Stocken geraten und verstummte jetzt vollends. Auch sie hatten es bemerkt. Beiläufig glitt Alexandras Blick aus dem Fenster, als betrachte sie die nun nahezu in völliger Finsternis versunkene Landschaft. In Wahrheit suchte sie die Umgebung ab, ohne jedoch mehr zu finden als die entfernten Lichter eines Hauses, die langsam näher rückten. Ihre Augen richteten sich auf Vladimir, der ihr gegenübersaß. Die Miene des massigen Mannes war hart wie immer. Eine Hand ruhte in der Nähe seiner Pistole, die grünen Augen schweiften wachsam umher, ehe sie wieder zu Alexandra zurückkehrten.
»Ist das der Gasthof?«, wollte sie wissen. Wo? , formten ihre Lippen lautlos.
»Ich denke schon.« Mit einem knappen Nicken deutete Vladimir auf den Boden der Kutsche.
Unter der Kutsche? So nah! Alexandra unterdrückte einen Fluch. Mit fragend hochgezogener Braue wanderte ihr Blick zwischen Vladimir, seinem Bruder Gavril sowie Mihail hin und her. Vladimir und Mihail hatten einst dem walachischen Heer angehört, wo sie ihr Können in unzähligen Aufständen und Kriegen unter Beweis gestellt hatten. Heute setzten sie ihr Kampfgeschick für andere Ziele ein. Selbst Gavril, der früher nie etwas mit Vladimirs und Mihails blutigem Handwerk zu tun haben wollte, hatte viel von ihnen gelernt.
Vladimir warf einen raschen Blick nach draußen. »Wir sind bald da.« Seine Aufmerksamkeit richtete sich erneut auf Alexandra. »Dein Gesicht ist ganz schmutzig. Du solltest dich waschen, ehe du unter Leute gehst.«
Wie üblich waren seine Worte so wenig freundlich wie seine Miene. Dennoch verstand Alexandra, was er ihr sagen wollte. Sie nickte. »Dann werde ich das tun.« Sie hoffte, dass sie den Gasthof erreichten, ehe es für den armen Mann, der dort draußen vollkommen ahnungslos auf seinem Kutschbock saß, zu spät war.
Plötzlich sahen sie die Lichter. Der Kutscher lenkte sein Gefährt auf einen Hof. Alexandra hörte, wie er absprang. Dann wurde der Wagenverschlag geöffnet.
»Wir sind da.« Das Gesicht des Mannes war staubig, zumindest jener Teil, den sie zwischen seinem Hut und dem Schal, der bis unter die Nase gewickelt war, erkennen konnte. »Unsere Unterkunft für die Nacht.« Er reichte Alexandra den Arm und half ihr auszusteigen. Einmal mehr musterte er sie fast ungläubig. Selbst nach beinahe zwei Wochen schien er sich noch immer nicht daran gewöhnt zu haben, dass sein weiblicher Reisegast es vorzog, hohe Reitstiefel und Hosen statt umständlicher Kleider und Seidenschuhe zu tragen. Sobald sie sicheren Boden unter den Füßen hatte, sagte er: »Ich melde dem Wirt, dass er Gäste hat.«
»Nicht nötig«, widersprach Mihail und sprang aus der Kutsche, um sich rasch ein Bild der Lage zu machen. »Wir kümmern uns selbst
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