Die Kälte in dir (German Edition)
es ein Mann. Ein Mann in einem nassen, durchtränkten Hemd.
Er kam aus dem Regen.
»Was machen Sie?«, fragte Osswalds Tochter.
»Bleiben Sie, wo Sie sind!«, befahl Daniel, während seine Finger weiter über den Torso wanderten.
In der Hosentasche des Mannes stieß er auf einen Gegenstand. Er zog ihn heraus. Für einen kurzen Moment erfüllte ihn Freude. Nun würde er in der Lage sein zu sehen, was ihn zu Fall gebracht hatte. Er brauchte lediglich die Taschenlampe anzuschalten, die er in der Hand hielt.
»Ist das ein Mensch?«, hörte er Louise fragen, die nun neben ihm auftauchte.
»Passen Sie auf Ihre Augen auf«, raunte Daniel und drückte den Kippschalter am Schaft der Taschenlampe.
Die Batterie war nicht mehr die Beste. Glück im Unglück. Das Licht durchdrang die Finsternis nur schwach. Dennoch reagierten Daniels geweitete Pupillen empfindlich. Ihm schossen Tränen in die Augen. Er musste ein paarmal blinzeln, bis sich die Pupillen auf die neuen Lichtverhältnisse eingestellt hatten. Der Schock über das, was er sah, verdrängte jegliche andere Empfindung, die seine Nerven ins Gehirn transportierten.
War da ein Schrei?
Kristina zuckte zusammen. Doreens Geständnis spukte durch ihren Kopf. Auch Schwarz reagierte. Sie sah, wie er sich umdrehte. Wie viele Leute hielt der Architekt in diesem Keller gefangen?
Er kam auf sie zu. Kristina sah ihn nun deutlich. Erblickte die Mauser, die er auf sie richtete. Er trug einen Daunenanorak, wie man ihn im tiefsten Winter hervorkramte. Das hatte ihm diese unförmige Gestalt verliehen. Ein groteskes Geschöpf mit einem viel zu kleinen, haarlosen Kopf auf dem ausgepolsterten Rumpf, aus dem unten zwei dürre Stöcke ragten. Seine Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen. Er sah aus, als könne der Flügelschlag eines Schmetterlings ihn umstoßen.
»Wir müssen nach dem Rechten sehen. Folgen Sie mir!«
Zu ihren Füßen war nun deutlich die mit Blut gezogene Schleifspur zu erkennen. Und ihre Waffe. Das Ziehen in Kristinas Magen verstärkte sich. Sie musste versuchen, ihn zu überrumpeln. Beide zu überrumpeln. Sie durfte Doreen nicht vergessen, die sich nach ihrem letzten Satz zu einem Knäuel zusammengerollt hatte und nun wimmernd auf dem Boden lag. Den Stiel der Axt zwischen ihre Oberschenkel geklemmt, während sie den stählernen Keil an ihre Brüste drückte, als umklammerte sie ihr Lieblingsstofftier, ohne das sie nicht einschlafen konnte.
Aber Kristina durfte sie nicht unterschätzen. Sie konnte nicht länger warten, erst recht nicht auf die Verstärkung. Die Umstände verlangten rasches Handeln. Falls Ralf noch nicht tot war, dann hing sein Leben am seidenen Faden.
Schwarz machte einen Schritt zur Seite, um ihr genug Abstand zu lassen, und winkte sie vorbei. Die Entschlossenheit in seinem Blick nahm ihr den Wind aus den Segeln. Der Mann hatte vielleicht Egon Osswald nicht getötet, aber dafür eine Reihe anderer Leute. Er würde nicht zögern, sollte sie eine falsche Bewegung machen. Geduld war angebracht. Weiterreden, verhandeln, Zeit schinden.
Aber Kristina sprang.
Daniel kannte den Mann, dem er ins bleiche, von Qualen entstellte Gesicht leuchtete. Die Übelkeit war mit einem Schlag zurück, und diesmal konnte er sie nicht niederringen. Er beugte sich zur Seite und kotzte sich die Seele aus dem Leib.
»Oh Gott!«, entfuhr es Louise neben ihm.
Dann fiel ein Schuss.
Kristina spürte einen Schlag gegen die rechte Schulter, der so heftig war, dass er ihre Flugbahn veränderte. Sie knallte mit dem Hinterkopf gegen das Treppengeländer und plumpste wie ein Stein zu Boden. Benommen sah sie sich um. Es fehlte eine Armlänge bis zu ihrer Dienstwaffe. Schwarz konnte sich alle Zeit der Welt nehmen, um ein zweites Mal auf sie zu feuern.
Sie suchte seinen Blick. Unbeeindruckt starrte er sie an, während der Lauf seiner Pistole auf ihren Unterleib gerichtet war. Er hatte die Mauser mit beiden Händen umklammert, trotzdem bekam er das Zittern nicht unter Kontrolle.
In ihrer Schulter breitete sich ein Brennen aus. Sie musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass er sie erwischt hatte. Sie spürte die heiße Flüssigkeit, die aus ihr heraus und ihren Arm hinablief. Ein Bauchschuss würde wahrscheinlich ihr Ende bedeuten.
Sie wurde ruhig. Kristina hatte einen Zustand jenseits der Angst erlangt.
»Selbst wenn Sie Osswald nicht auf dem Gewissen haben«, begann sie, »wenn Sie ihn nur ausgeweidet haben wie ein Aasfresser, hat Sie später trotzdem die
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