Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
Kapitel 1
Cambridgeshire, England, 1867
D IE MEISTEN Z AHLEN , denen Miss Jane Victoria Fairfield im Laufe ihres Lebens begegnet war, hatten sich als harmlos erwiesen. Zum Beispiel hatte die Schneiderin, die gerade ihr Kleid absteckte, sie siebenmal gestochen, während sie die dreiundvierzig Stecknadeln anbrachte – aber der Schmerz war rasch vergangen. Die zwölf Löcher in Janes Korsett waren ein Übel, sicher, aber ein notwendiges, denn ohne sie wäre es ihr nie gelungen, ihre Taille von unmodischen siebenunddreißig Zoll auf eine Weite von immer noch unmodischen dreiunddreißig Zoll zu schnüren.
Zwei war auch keine so schreckliche Ziffer, selbst wenn sie für die Anzahl von Johnson-Schwestern stand, die zuschauten, wie die Näherin das Kleid ihrer alles andere als modischen Figur anpasste.
Nicht einmal, wenn besagte Schwestern in der vergangenen halben Stunde nicht weniger als sechsmal gekichert hatten. Diese Zahlen waren lästig – allerdings nicht mehr als Fliegen, die man mit einer Bewegung des goldverzierten Fächers verscheuchen konnte.
Nein, für Janes Probleme konnte man zwei Zahlen die alleinige Schuld geben. Einhunderttausend war die eine davon, und die war pures Gift.
Jane holte so tief Luft, wie ihr Korsett es zuließ, und wandte den Kopf zu Miss Geraldine und Miss Genevieve Johnson. Die beiden jungen Damen konnten in den Augen der guten Gesellschaft nichts falsch machen. Sie trugen fast identische Tageskleider – das eine aus blassblauem Musselin, das andere aus lindgrünem. Sie bewegten ihre nahezu identischen Fächer, die mit Szenen ländlichen Müßiggangs bemalt waren, im Takt. Sie waren beide auf die klischeehafteste, puppenartigste Weise schön: porzellanblaue Augen und blonde Haare, die in schimmernden Locken ihre Gesichter umrahmten. Ihre Taillenweite lag etwas unter zwanzig Zoll. Die einzige Möglichkeit, die beiden Schwestern voneinander zu unterscheiden, bestand darin, dass Geraldine Johnson ein perfekt geformtes und ebenso perfekt platziertes Muttermal auf der rechten Wange hatte, während es sich bei ihrer Schwester in der gleichen Vollkommenheit auf der linken befand.
Sie waren in den ersten Wochen ihrer Bekanntschaft zu Jane freundlich gewesen.
Sie vermutete, sie waren wirklich nett, wenn man sie nicht bis aufs Blut reizte. Jane hatte, wie sich herausgestellt hatte, ein Talent dafür, selbst die charmantesten jungen Damen zur Herzlosigkeit zu treiben.
Die Schneiderin steckte die letzte Nadel fest. „So“, sagte sie. „Werfen Sie bitte einen Blick in den Spiegel, und lassen Sie mich wissen, wenn ich etwas ändern soll – die Spitze an einer anderen Stelle platzieren oder vielleicht einfach weniger davon verwenden.“
Die arme Mrs. Sandeston. Sie hatte diese Worte ausgesprochen wie ein Mann, der dazu verurteilt war, noch am gleichen Nachmittag gehängt zu werden, über das Wetter des nächsten Tages reden würde – wehmütig, als ob die Vorstellung von weniger Spitze ein Luxus wäre, etwas, was höchstens als außergewöhnlicher und unwahrscheinlicher Gnadenakt kommen konnte.
Jane trippelte nach vorne zum Spiegel und ließ ihr neues Kleid auf sich wirken. Sie musste nicht so tun, als lächelte sie – ihre Gesichtsmuskeln verzogen sich wie von selbst zu einem hingerissenen Lächeln. Himmel, das Kleid war schrecklich. So furchtbar schrecklich. Nie zuvor war so viel Geld für so wenig Geschmack ausgegeben worden. Erfreut warf sie sich einen verführerischen Blick zu, und ihr Spiegelbild flirtete zurück, dunkelhaarig, dunkeläugig, kokett und geheimnisvoll.
„Was meinen die Damen?“, fragte sie und drehte sich zu ihnen um. „Sollte es nicht noch ein wenig mehr Spitze sein?“
Der schwer geprüften Mrs. Sandeston zu Janes Füßen entwich ein leises Wimmern.
Berechtigterweise. Das Kleid zierten bereits in verschwenderischer Fülle drei verschiedene Sorten Spitze. Dicke Wellen aus blauem Point-de-Gaze waren Meter um anstößig teuren Meter um den Rock gewunden. Ein zartes Stück Duchessespitze aus Belgien säumte das Dekolleté, und die Schlitze in den Ärmeln waren mit schwarzer Chantillyspitze in einem üppigen Blumenmuster unterfüttert. Der Stoff war wunderschön gemusterte Seide – nicht, dass ihn irgendwer unter dem Ballast an Besatz würde erkennen können.
Dieses Kleid war eine Scheußlichkeit. Jane fand es wunderbar.
Eine echte Freundin, dachte sie, hätte ihr geraten, auf die Spitze zu verzichten, und zwar komplett.
Genevieve nickte. „Ja, eindeutig
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