Die Kameliendame
Krankenbett nicht verlassen.
25. Dezember Mein Arzt hat mir verboten, jeden Tag zu schreiben. Tatsächlich treiben die Erinnerungen das Fieber in die Höhe. Aber gestern erhielt ich einen Brief, der mir wohltat, mehr durch die ausgedrückten Gefühle als durch die materielle Hilfe, die er mir brachte. Also kann ich Ihnen heute schreiben. Der Brief war von Ihrem Vater, und dies ist sein Inhalt: ,Gnädige Frau, soeben erfahre ich, daß Sie krank sind. Wäre ich in Paris, würde ich sofort selber zu Ihnen kommen und mich nach Ihrem Befinden erkundigen. Und wäre mein Sohn hier, ich würde ihn zu Ihnen schicken. Aber ich kann C... nicht verlassen, und Armand ist sechs- oder siebenhundert Meilen weit fort von hier. Erlauben Sie mir also, Ihnen zu schreiben, gnädige Frau, wie sehr mich Ihre Krankheit beunruhigt. Nehmen Sie meine aufrichtigen Wünsche zu Ihrer baldigen Genesung entgegen. Einer meiner Freunde, Herr H..., wird sich bei Ihnen melden. Empfangen Sie ihn, bitte, er hat einen Auftrag von mir bekommen, dessen Erledigung ich mit Ungeduld erwarte. Meine aufrichtigsten Empfehlungen.' Diesen Brief erhielt ich. Ihr Vater hat ein edles Herz. Lieben Sie ihn sehr, mein Freund. Denn es gibt nur sehr wenige Männer in der Welt, die so sehr verdienen, geliebt zu werden, wie er. Dieses Blatt mit seiner Unterschrift tat mir wohler als alle Verordnungen des Arztes. Heute morgen kam Herr H... Er schien sehr befangen zu sein wegen des schwierigen Auftrages, mit dem Ihr Vater ihn zu mir schickte. Er brachte mir tausend Francs von Ihrem Vater. Ich wollte das Geld nicht annehmen, aber Herr H... sagte mir, damit würde ich Herrn Duval beleidigen. Er habe mir zunächst
diese Summe zu geben, und ich würde alles erhalten, was ich noch weiter benötige. Ich nahm es also an, denn von seiten Ihres Vaters ist es kein Almosen. Wenn ich bei Ihrer Rückkehr nicht mehr lebe, dann zeigen Sie Ihrem Vater, was ich über ihn schreibe, und sagen Sie ihm, daß das arme Mädchen, dem er diesen tröstlichen Brief schrieb, Tränen vergoß über diese Zeilen und ihn in ihre Gebete einschloß.
4. Januar Ich habe eine Reihe schmerzvoller Tage hinter mir. Ich wußte nicht, daß der Körper so leiden kann. Oh, ich muß heute doppelt für meine Vergangenheit zahlen. Man wacht jede Nacht bei mir. Ich kann nicht mehr atmen. Fieber und Husten teilen sich in das bißchen Leben, das ich noch habe. In meinem Eßzimmer häufen sich Konfekt und Geschenke aller Art, die man mir bringt. Sicher kommen diese Gaben auch von Männern, die hoffen, daß ich später einmal ihre Geliebte werde. Wenn Sie sehen würden, was die Krankheit aus mir gemacht hat, würden sie erschrocken fliehen. Prudence verwendet alles für ihre Neujahrsgeschenke. Es friert draußen,
und der Arzt hat gesagt, ich könne in wenigen Tagen ausgehen, wenn das klare Wetter anhält.'
8. Januar Gestern bin ich in meinem Wagen ausgefahren. Das Wetter war herrlich. Die Champs-Elysées waren voller Spaziergänger. Man konnte von Frühlingsahnen sprechen. Alles um mich herum sah festlich aus. Ich hätte nie geglaubt, in einem Sonnenstrahl soviel Sanftheit, Trost und Freude finden zu können. Ich begegnete fast allen Menschen, die ich kenne. Sie waren heiter und erfüllt von ihren Angelegenheiten. Wie glücklich sind sie und wissen es nicht! Olympia fuhr in einem eleganten Wagen vorüber, den der Graf von N... ihr geschenkt hat. Sie versuchte, mich mit Blicken zu beleidigen. Sie weiß nicht, wie
fern mir alle Eitelkeit liegt. Ein junger Mann, den ich schon lange kenne, fragte mich, ob ich mit ihm und einem seiner
Freunde, der gerne meine Bekanntschaft machen möchte, zu Abendessen würde.
Ich lächelte traurig und reichte ihm meine fieberheiße Hand. Ich habe nie ein erstaunteres Gesicht gesehen. Um vier Uhr kehrte ich nach Hause zurück und aß mit einigem Appetit.
Diese Spazierfahrt hat mir gutgetan. Wenn ich doch gesund würde!
Merkwürdig, wie doch der Anblick der Lebensfreude und des Glückes der anderen bei denen wieder den Wunsch zum Leben entfacht, die gestern noch in der Einsamkeit ihres Herzens und im Dunkel ihrer Krankenzimmer den Tod herbeisehnten!
10. Januar Die Hoffnung auf Genesung war nur ein Traum. Ich liege wieder zu Bett, den Körper mit brennenden Pflastern bedeckt. Man sollte diesen Körper, für den einst so viel bezahlt wurde, jetzt anbieten und sehen, was man heute dafür geben würde. Wir müssen schon vor unserer Geburt Fehler begangen haben, oder nach unserem Tode erwarten uns
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