Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
schmieriger Kerl in einem billigen Anzug. Sogar Mumien haben zum Teil mehr Haare und bessere Zähne. Er schüttelte Dad die Hand, als hätte er einen Rockstar vor sich. »Ihr letzter Artikel über Imhotep – brillant! Wie haben Sie bloß diese Zaubersprüche übersetzt?«
»Im-ho-was?«, murmelte Sadie.
»Imhotep«, erklärte ich. »Hohepriester, Architekt. Manche behaupten, er war ein Magier. Hat die erste Stufenpyramide entworfen. Hast du bestimmt schon gehört.«
»Hab ich nicht«, entgegnete Sadie. »Ist mir auch egal. Aber danke.«
Dad bedankte sich beim Leiter der Sammlung, dass er uns an einem Feiertag empfing. Anschließend legte er mir die Hand auf die Schulter. »Dr. Martin, das sind Carter und Sadie.«
»Aha! Offensichtlich ihr Sohn und –« Der Leiter musterte Sadie unentschlossen. »Und diese junge Dame?«
»Meine Tochter«, erklärte Dad.
Dr. Martins starrer Blick hatte für einen Augenblick etwas Hilfloses. Gleichgültig, für wie aufgeschlossen und höflich sich Leute halten, immer gibt es diesen Moment der Verblüffung auf ihren Gesichtern, wenn sie mitkriegen, dass Sadie zu unserer Familie gehört. Ich hasse es, aber mit den Jahren wartete ich schon fast darauf.
Der Leiter fand sein Lächeln wieder. »Ja, ja, natürlich. Immer hier entlang, Dr. Kane. Es ist uns eine große Ehre!«
Hinter uns verriegelten die Wachleute die Tür. Sie nahmen unser Gepäck und einer von ihnen griff nach Dads Arbeitstasche.
»Nein«, lehnte Dad mit angespanntem Lächeln ab. »Die behalte ich lieber.«
Während wir dem Leiter in den überdachten Innenhof des Museums, den Great Court, folgten, blieben die Wachleute im Foyer. Der weite Platz hatte am Abend etwas Bedrohliches. Durch die Glaskuppel fiel schwaches Licht und warf ein Schattenmuster auf die Wände, das wie ein Spinnennetz aussah. Unsere Schritte hallten auf dem weißen Marmorboden wider.
»Also«, sagte Dad, »der Stein.«
»Ja!«, erwiderte der Leiter. »Auch wenn ich nicht nachvollziehen kann, welche neuen Informationen er Ihnen liefern könnte. Er wurde endlos erforscht – aber er ist natürlich auch unser berühmtestes Artefakt.«
»Natürlich«, bestätigte Dad. »Aber vielleicht erleben Sie eine Überraschung.«
»Was meint er damit?«, flüsterte mir Sadie zu.
Ich gab keine Antwort. Ich hatte einen leisen Verdacht, um welchen Stein es ging, aber ich konnte mir nicht erklären, warum Dad uns ausgerechnet am Weihnachtsabend hergeschleppt hatte, damit wir ihn uns ansahen.
Was hatte er uns wohl an Cleopatra’s Needle erzählen wollen – etwas über unsere Mutter und die Nacht, in der sie starb? Und warum drehte er sich ständig um, als erwartete er, dass diese seltsamen Leute, die wir an der Nadel gesehen hatten, wieder auftauchen würden? Wir waren in einem Museum eingeschlossen und von Wachleuten und neuester Sicherheitstechnik umgeben. Niemand konnte uns hier etwas tun – hoffte ich.
Wir bogen nach links in den Flügel mit der Ägyptischen Sammlung. An den Wänden reihten sich wuchtige Statuen von Pharaonen und Göttern, doch mein Vater beachtete sie nicht weiter, sondern steuerte direkt auf die Hauptattraktion in der Mitte des Raums zu.
»Wunderschön«, murmelte Dad. »Und es ist ganz sicher keine Kopie?«
»Nein, nein«, beteuerte der Leiter. »Das Original befindet sich zwar nicht immer in der Ausstellung, aber für Sie haben wir eine Ausnahme gemacht.«
Wir starrten auf eine Tafel aus dunkelgrauem Stein, die etwa einen Meter hoch und einen halben Meter breit war und hinter Glas auf einem Sockel stand. In die flache Oberfläche des Steins waren drei Abschnitte mit unterschiedlichen Schriftzeichen eingemeißelt. Der oberste Teil war altägyptische Bilderschrift: Hieroglyphen. Doch in der Mitte … Ich zermarterte mir das Hirn, bis mir einfiel, wie mein Vater sie nannte: demotische Schrift . Sie stammte aus der Zeit, als Ägypten in der Hand der Griechen war und sich viele griechische Wörter unter die ägyptischen mischten. Die letzten Zeilen waren in Griechisch geschrieben.
»Der Rosettastein«, stellte ich fest.
»Rosetta … Das ist doch ein Computerprogramm«, sagte Sadie.
Ich hätte ihr gern gesagt, wie dumm sie ist, aber der Leiter kam mir mit einem nervösen Lachen zuvor. »Junge Dame, der Rosettastein war der Schlüssel zur Entzifferung der Hieroglyphen! Er wurde 1799 von Napoleons Armee entdeckt und –«
»Ach ja, richtig«, meinte Sadie. »Jetzt weiß ich’s wieder.«
Das sagte sie natürlich nur,
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