Die Katastrophe
wollten. Nichts und niemand würde ihr das Hochgefühl von heute Morgen verderben können.
Als sie die Essensausgabe verließ, war ihr Tablett voll beladen mit einer doppelten Portion Rührei, Müsli, Vollkornbrot, Frischkäse, Tomaten und Obst.
»Was ist denn mit dir los?«, hörte sie eine spöttische Stimme hinter sich. Als Katie sich umwandte, stand Chris vor ihr. »War die Nacht so hart, dass du derartigen Kohldampf schiebst? Du isst doch sonst nur Obst und Gemüse.«
»Träume können auch anstrengend sein«, erwiderte sie so gut gelaunt wie möglich und wandte ihm wieder den Rücken zu.
»Und gefährlich! Oder was ist mit deiner Stirn passiert?«
Katie rollte mit den Augen. So viel zur guten Laune. Na ja, sie hatte es versucht.
»Ich habe mich beim Rasieren geschnitten«, gab sie schnippisch zurück.
Chris lachte.
»Ach und übrigens – schaden könnte dir so eine Rasur auch nichts.« Katie nahm ihr Tablett. »Ich bin mir nicht sicher, ob dein Dreitagebart Julia wirklich gefällt.«
Wie immer, wenn die Sprache auf Julia kam, verhielt Chris sich seltsam. Als ob sie ihm allein gehörte. »Sag du mir nicht, was Julia gefällt!« In Chris’ Stimme schwang ein selbstgefälliger Unterton mit. Katie war sicher, dass Julia wieder einmal die Nacht mit ihm verbracht hatte.
Sie hatte keine Ahnung, was genau sie von Chris hielt, andererseits war das auch nicht ihr Problem. Sie schob sich mit ihrem Tablett an ihm vorbei und drängte sich durch die Menge Studenten, die zur Tür strömten.
Die Sonne brannte durch die hohen Glastüren, die hinaus auf den Balkon führten, wo der größte Teil der Tische besetzt war.
Dieser Teil des Collegegebäudes war um die letzte Jahrhundertwende entstanden. Das Haupthaus erinnerte Katie immer an eins dieser gigantischen Herrenhäuser in einem pseudohistorischen Schmachtfilm. Es bestand aus einem Mittelflügel und zwei Seitenflügeln mit jeder Menge Schornsteinen, Giebeln und Balkonen. Das Herz des Gebäudes bildete die riesige Empfangshalle, über der sich die Mensa erstreckte.
Katies Blick ging wie immer, wenn sie hier oben war, über die weite Fläche des Lake Mirror bis zu den gigantischen Felsenwänden des Ghost mit seinen beiden niedrigen Nebengipfeln und der Gletscherregion dahinter. So weit entfernt und doch so monumental, als seien sie ein von Menschenhand errichtetes Denkmal für die göttliche Allmacht. An die Katie im Übrigen nicht glaubte. Und dennoch konnte sie sich nicht gegen die Faszination wehren, die das Bergmassiv auf sie ausübte.
Wozu auch?
Wieder dachte Katie daran, was sie sich vorgenommen hatte. Der Ghost war ihr nächstes Ziel. Aber falls sie in diesem Jahr noch den Gipfel machen wollte, durfte sie nicht viel länger warten. Noch waren die Felswände schneefrei. Sie hatte die Wetteraufzeichnungen der letzten Jahrzehnte analysiert und sich eingehend erkundigt. Vor den Herbststürmen gab es fast immer eine Ruheperiode. Und für die nächsten Tage ging der Wetterbericht von einer Wahrscheinlichkeit zu fünfundachtzig Prozent von gutem Wetter aus.
Allerdings konnte man sich im Hochgebirge nie sicher sein. Das Wetter schlug um und dann...
»He, Katie, ist das da Blut unter deinem Pflaster?«, riss Debbies schrille Stimme sie aus diesen Gedanken.
Katie wandte den Kopf. Sie stand direkt neben dem Tisch, an dem ihre Mitbewohnerinnen saßen: Deborah Wilder, genannt Debbie, Rose Gardner und Julia. Außerdem war da noch Robert, Julias Bruder, doch der hatte wie immer das Gesicht in einem Buch vergraben und blickte nicht auf, als Katie ihr Tablett abstellte.
Katie mochte Robert, obwohl ihn viele hier am College für einen Psycho hielten. Aber Robert blickte hinter Dinge, von denen andere noch nicht einmal etwas ahnten. Er hatte sogar Angelas Tod vorausgesehen. Und er stellte andere Fragen als der Rest von ihnen.
Wenn Katie eines in den letzten Monaten im Tal gelernt hatte, dann das: Hier oben in dieser Einsamkeit, diesem von Felswänden eingeschlossenen Platz waren die Antworten nicht immer ganz so klar und eindeutig wie an anderen Orten der Welt.
Das war etwas, das sie sowohl reizte wie auch erschreckte. Und ach ja – und wenn ihre Eltern davon wüssten, würden sie ihre Tochter sofort abholen und sie in die Psychiatrie stecken.
Aber das eigentlich Spannende war, dass jeder diese Antwort nur alleine finden konnte. Und Robert war der Einzige von ihnen, der das ahnte.
Selbst Julia, seine Schwester, war da anders. An dem Abend im Mai, als Katie
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