Die Katastrophe
Rhythmus finden. Gleichmäßig wie ein Uhrwerk.
So hatte es Sebastien ihr beigebracht.
Nein, nicht an ihn denken! Nicht jetzt, nicht hier.
Katie bewegte ihren Kopf einen Millimeter von der Wand weg. Über sich erkannte sie nur grauen Felsen.
Die Gefahr eines erneuten Steinschlags war groß.
Nein, nie im Leben!
Ihr Vater hatte es Sucht, Besessenheit, Wahnsinn genannt. Wie auch immer! Sie – Katie – konnte jedenfalls nicht anders. Die Höhe war für sie etwas, das ihr half, den Überblick zu behalten. Und Höhe war für Katie schon immer der einzige Ausweg gewesen.
»Du spielst mit deinem Leben, Katie!«, hatte der glatzköpfige Psychiater gesagt, der ihr von ihrem Vater aufgezwungen worden war.
»Ach ja? Ich dachte eigentlich, ich spiele mit dem Tod! Sie wissen schon! So etwas wie Verstecken! Ich fordere ihn heraus, verstehen Sie, ich sag ihm: Wetten, dass du mich nicht kriegst?«
»Hast du Angst vor dem Leben?«
»Nein! Ich fürchte nur die Langeweile.«
»Du brauchst also den Kick, damit du dich spürst?«
»Genau wie Sie meine Probleme benutzen, um Ihre eigenen dahinter zu vergessen.«
»Eben«, hatte er gesagt, »darum geht es doch auch bei dir, Katie! Du fliehst!«
Scheiß drauf, dachte Katie nun. Scheiß auf dieses ganze Gelaber. Was wusste er oder sonst jemand schon, warum sie tat, was sie tat? Sie liebte einfach die Höhe und hasste die Tiefe. Ende der Geschichte.
Noch immer hatte Katie ihre Position um keinen Zentimeter verändert. Sie konnte nun auch ihre Finger nicht mehr spüren.
Zieh es durch, Katie, sagte sie sich, und verdammt noch mal, gib nicht auf! Gib ihnen nicht recht.
Sie spürte den metallischen Geschmack des Blutes an ihren Lippen. Noch einmal holte sie tief Luft, schloss die Augen, öffnete sie wieder, ließ die Luft durch ihre Lungen strömen und im nächsten Moment löste sie die rechte Hand aus dem Spalt. Der Arm schwang nach oben und fast gleichzeitig tasteten ihre Finger den Felsen über ihr ab.
Nicht in jeder Wand gab es ein Loch, einen Riss, einen Spalt, in dem man sich festkrallen konnte. Aber hier gab es ihn, sie wusste es. Sie musste ihn nur finden.
Da! Es war eher ein Riss statt ein Loch, aber egal.
Okay! Bleib dran! Nun der linke Fuß. Aus den Augenwinkeln erkannte Katie den Felsvorsprung fast sofort, so unscheinbar er auch war. Geradezu an den Felsen geklebt, schob sie sich, das Knie angewinkelt, nach oben. Noch ein Stück – würde es reichen?
Ja!
Endlich fand ihr Bein Halt und sie zog sich hoch.
Ein letzter Schwung, dann war es geschafft.
Nein – nicht es war geschafft, sie hatte es geschafft!
Sie, Katie West, hatte diesen Überhang überwunden, Steinschlag hin – Platzwunde her!
Nichts und niemand konnte sie aufhalten!
Katie spürte das Pulsieren des Adrenalins, es durchströmte ihren ganzen Körper, überirdisch gut fühlte sich das an. Und sie wusste einmal mehr, wozu sie all das hier tat. Wozu sie überhaupt lebte. Jetzt blieben noch allenfalls fünf Meter, die sie zurücklegen musste. Ein Kinderspiel und einen Moment später war es tatsächlich geschafft. Sie hatte den Ausstieg erreicht. Als Katie sich auf den feuchten Felsen fallen ließ und auf den spiegelglatten See tief unter ihr starrte, hätte sie fast geschrien vor Triumph und Glück.
Es war wie ein Rausch.
Ein Gefühl von Macht und Freiheit, nach dem man einfach süchtig werden musste.
Nein, Sebastien hätte nicht gewollt, dass sie aufgab.
Knapp zwei Stunden später musterte Katie durch das große Panoramafenster der Empfangshalle eine Gruppe von Arbeitern, die damit beschäftigt waren, Klappstühle auf dem akkurat geschnittenen Rasen vor der provisorischen Bühne aufzustellen, die in Richtung See zeigte.
Um die Stippvisite der Generalgouverneurin machte das College ein Aufheben, als hätte sich die Königin von England angekündigt und nicht nur ihre Repräsentantin. Die Gouverneurin stattete fünf ausgewählten Elite-Colleges der USA und Kanadas einen Besuch ab, die Reise hatte irgendetwas mit dem neuen Bildungsgesetz zu tun, das vor einem halben Jahr verabschiedet worden war. Katie hatte schon wieder vergessen, worum es sich genau handelte. Wie abartig, dass Kanada noch immer eine Monarchie war. Und, Mann, fiel denn keinem auf, wie absurd das klang, dass der Grace Chronicle, also die Collegezeitung der Studenten, doch tatsächlich schrieb, der Besuch ihrer Exzellenz, der Höchst Ehrenwerten Michelle Jean, und ihres vizeköniglichen Gemahls sei eine Ehre für das College.
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