Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Kinder der Elefantenhüter

Titel: Die Kinder der Elefantenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Hoeg
Vom Netzwerk:
schwächer geworden und Tilte schwerer. Jetzt arrangieren sie sich so, dass Tilte sich abstützt und Urgroßmutter unter sie rollt, sie ist zu dieser Zeit schon kleiner als Tilte.
    »Mein Vater und meine Mutter«, sagt Urgroßmutter, »eure Ururgroßeltern, waren nicht mehr ganz so jung, als sie geheiratet haben, sie waren Ende dreißig. Trotzdem bekamen sie sieben Kinder. Als eben das siebte geboren war, sind der Bruder meiner Mutter und seine Frau gestorben, mein Onkel und meine Tante, sie wurden beide von derselben Seuche angesteckt, der Spanischen Grippe, und starben fast zur gleichen Zeit. Sie haben zwölf Kinder hinterlassen. Mein Vater fuhr nach Nordhavn zur Beerdigung. Danach haben sich alle getroffen, die Familie musste ja die zwölf Kinder unter sich aufteilen, so machte man das damalsvor neunzig Jahren, es war eine Frage des Überlebens. Die Fahrt im Pferdewagen von Finø bis Nordhavn dauerte zwei Stunden, mein Vater war erst am Abend wieder zu Hause. Er ist in die Küche gekommen, wo meine Mutter am Herd stand, und hat dann gesagt:
    ›Ich hab sie alle genommen.‹
    Meine Mutter blickte freudig auf und sagte dann:
    ›Danke für das Vertrauen, Anders.‹«
    Als Urgroßmutter ihre Geschichte beendet hatte, wurde es still in der Küche. Ich weiß nicht mehr, wie lange die Stille anhielt, weil nämlich die Zeit stillstand, es gab zu viel zu verstehen, um denken zu können, man hatte gleichsam aufgegeben. Man musste verstehen, was in Urgroßmutters Vater vorging, als er die zwölf Kinder bei der Beerdigung sah und es nicht übers Herz brachte, sie voneinander zu trennen. Und vor allem musste man seine Frau verstehen, als er nach Hause kam und sagte: »Ich hab sie alle genommen.« Da wird nicht eine Sekunde gezaudert, nichts da mit Nervenzusammenbruch und Gejammer, dass das jetzt nicht mehr nur die eigenen sieben Kinder sind, was ja schon schlimm genug sein könnte, wenn man nur an uns drei im Pfarrhof denkt, und wir haben ja sogar zwei Toiletten plus eine Gästetoilette, nein, jetzt sind’s mit einem Mal neunzehn Kinder.
    Irgendwann, als es wer weiß wie lange still gewesen war, jedenfalls lange, sagte Tilte:
    »So will ich auch sein!«
    Wir dachten alle, wir verstünden, was sie meinte, und irgendwie verstanden wir es auch. Wir dachten, sie wollte wie der Vater oder wie die Mutter sein oder wie sie alle beide und, falls nötig, neunzehn Kinder willkommen heißen können.
    Und richtig, das meinte sie auch. Aber sie meinte auch noch etwas anderes.
    Bevor sie das sagte, während dieser langen Stille, hatte Tilte die Tür entdeckt. Oder war sich sehr sicher geworden, dass es sie gab.
     
    Ehe ich anfange, möchte ich dich etwas fragen. Ich möchte dich fragen, ob du dich an Momente deines Lebens erinnerst, in denen du glücklich gewesen bist. Nicht nur froh. Nicht nur zufrieden. Sondern so glücklich, dass alles vollständig total hundertprozentig perfekt war.
    Wenn du dich nicht an einen einzigen solchen Moment erinnern kannst, ist das nicht so gut, aber dann ist es natürlich umso wichtiger, dass ich dich jetzt mit dieser Geschichte hier erreiche. Wenn du dich wenigstens an einen oder besser noch ein paar Momente erinnerst, bitte ich dich, an sie zu denken. Das ist wichtig. Denn in solchen Momenten geht die Tür auf.
    Ich erzähle dir ein paar von meinen. Nichts Besonderes. Ich nenne sie nur, damit du es leichter hast, sie in deinem eigenen Leben ausfindig zu machen.
    Ein solcher Moment war, als ich zum ersten Mal für die Finø AllStars nominiert wurde, die im Juli gegen die Sommerfrischler antreten. Das Aufgebot wurde vom Trainer der ersten Mannschaft vorgelesen, wir nennen ihn Fakir, weil er kahl ist und dünn wie ein Pfeifenreiniger und weil er das ganze Jahr hindurch eine Laune hat, als wäre er eben erst aufgestanden und hätte die Nacht auf Glasscherben verbracht.
    Bislang war noch nie jemand nominiert worden, der jünger war als fünfzehn, es traf mich völlig unvorbereitet, als er die Liste vorlas und meinen Namen nannte.
    Einen winzigen Augenblick lang war schwer zu sagen, wo man sich befand, stand man außerhalb seines Körpers, oder war man in ihm oder beides auf einmal?
    Ein anderer solcher Moment war, als Conny fragte, ob wir miteinander gehen wollten. Sie fragte nicht selber, sie schickte eine ihrer Hofdamen, Sonja. Ich war auf dem Heimweg von der Schule, Sonja holte mich ein, »ich soll dich von Conny fragen, ob ihr miteinander gehen wollt«.
    Eine Sekunde lang denkt man, jemand hat den

Weitere Kostenlose Bücher