Die Kinder der Elefantenhüter
Heringsmöwen brüten nämlich erst ab drei Eiern, also rühren wir Nester mit drei Eiern nicht an. Das heißt, in dem Augenblick, in dem du entdeckst, dass Kaj die Nester ausgehoben hat, und die Welt um dich herum zusammenstürzen will, in dem Augenblick ist die Tür offen.
Und jetzt sage ich, was Tilte und ich herausgefunden haben: Man muss in sich hineinhorchen. Genau im Augenblick des Schocks nämlich spürt man ein ganz besonderes, außerordentliches Gefühl in sich und um sich herum, und in dieses Gefühl muss man hineinhorchen. Es tritt ein, kurz bevor die Tränen fließen und die Verzweiflung kommt und die übliche Depression und Resignation und eben der Entschluss: Wenn Kaj um vier aufstehen kann, schaffst du es schon um drei oder zwei oder lässt das Schlafen gleich bleiben, um ganz sicher als erster da zu sein, in diesem kurzen Augenblick, in dem der vertraute innere Motor aussetzt und noch nicht wieder angesprungen ist, in diesem Augenblick öffnet sich etwas.
Daran denke ich hier auf dem Blågårds Plads und horchein mich hinein und spüre, wie sich die Tür durch den Schock allmählich auftut.
Danach überstürzen sich die Ereignisse, so dass wir erst einmal darauf achten müssen, den Schnorchel über Wasser zu halten, das gilt auch für Tilte.
Zuerst sagt Tilte, was wir alle denken.
»Vater und Mutter sind verschwunden!«
Als nächstes verändert sich der Blågårds Plads.
Ich weiß nicht, ob du das schon erlebt hast, dass deine Stimmung sozusagen auf die Umgebung abfärbt? Und die sich dann plötzlich verändert? Eben noch war der Blågårds Plads wie gesagt total in Ordnung, ohne dass er deswegen gleich im Weltkulturerbe-Katalog der UNESCO erscheinen müsste, um dann fünf Millionen Touristen anzulocken. Und in der nächsten Minute gleicht er einem Ort, zu dem die Leute sich hinschleppen, um zu sterben. Die Menschen vor der Kirche erinnern an ein Trauergeleit. Die drei auf der Bank legen sich gleich hin, um Freund Hein zu begegnen, wenn sie ausgetrunken haben, und sie brauchen nicht lange zu warten. Die Zitronen des Gemüsehändlers befinden sich im fortgeschrittenen Stadium der Kompostierung, und die Dame mit dem Rollator und ihrem Katzenfutter sieht uns an, als wären wir mit Leichenwagen und Sarg unterwegs und als wollte sie uns fragen, ob sie den Verstorbenen noch ein letztes Mal sehen dürfe.
Dann sage ich: »Bodil hat Angst.«
Wir haben es alle gehört, und das ist irgendwie das Unheimlichste. Bodils Stimme konnte man anhören, dass sie auf irgendetwas gestoßen sein musste, das größer war als sie selber. Anders war es nicht zu erklären.
Dann beginnt der Gesang.
Er kommt aus der Kirche, eine Frau singt. Sie muss Mikrophon und Lautsprecher zur Verfügung haben, undgleichzeitig wirkt der Blågårds Plads wie ein Trichter, der Ton wird verstärkt, es klingt wie ausländische Kirchenmusik, und es swingt langsam wie ein sanfter Gospel.
Die Worte kann man nicht verstehen, aber das macht nichts, solange nur die Stimme da ist. Die Stimme ist so groß, dass man an einem Wintertag unsere ganze Kutsche hineinfahren könnte, und so warm, dass man keine Sekunde frieren würde, und so nice , dass man eine Buße wegen Falschparkens riskierte, weil man es nicht übers Herz brächte, wieder hinauszufahren.
Einen kurzen Augenblick lang erleuchtet sie den ganzen Platz. Sie schafft es, dass die Zitronen wieder an den Bäumen hängen, dass die Männer auf der Bank erwägen, sich bei den Anonymen Alkoholikern anzumelden, und dass die Dame vor uns ihren Rollator loslässt und sich startklar macht für einen Fandango.
Und wegen dieser Stimme steht Hans auf, stellt sich Tilte auf den Sitz und stoße ich Hans den Ellbogen in die Seite, damit er mich hochhebt und ich besser sehen kann, so wie er es gemacht hat, seit ich denken kann.
Aus der Kirche ist eine Prozession gekommen. Ich kann mehrere Pfarrer im Messgewand sehen, viele Menschen in Schwarz, und an der Spitze geht sie, die Sängerin.
Erst denkt man, wie kann ein so kleiner Mensch eine so große Stimme haben, dann denkt man, dass da gar kein Mensch ist, weil es aussieht, als schwebte ein langes grünes Kleid ganz von allein und darüber ein grüner Seidenhut wie ein großer Turban, ohne Inhalt. Dann dreht sich das Kleid, und ich kann das Gesicht sehen, ihr Teint ist hellbraun wie der Stein, aus dem die Kirche erbaut wurde, deshalb war ihr Gesicht unsichtbar.
Nun sieht sie zu uns herüber. Während sie den letztenTon hält, zieht sie ihre
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