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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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in ihm hoch. Wozu dieses sinnlose Elend? Er kriecht aus dem Unterschlupf, tastet sich zur Hintertür und klopft, zuerst diskret, dann immer lauter.
    Über ihm geht ein Fenster auf; im Mondlicht kann er schwach das Gesicht der jungen Frau erkennen. »Ja?«, sagt sie. »Stimmt etwas nicht?«
    »Nichts stimmt«, sagt er. »Hier draußen ist es kalt. Lassen Sie uns bitte ins Haus.«
    Es entsteht eine lange Pause. Dann: »Warten Sie«, sagt sie.
    Er wartet. Dann: »Hier«, sagt ihre Stimme.
    Es fällt ihm etwas vor die Füße – eine Decke, nicht allzu groß, vierfach zusammengelegt, aus irgendeinem groben Stoff, nach Kampfer riechend.
    »Warum behandeln Sie uns so?«, ruft er. »Wie Dreck?«
    Das Fenster schlägt zu.
    Er kriecht zurück in den Unterschlupf, wickelt die Decke um sich und das schlafende Kind.
    Er wird durch lärmenden Vogelgesang geweckt. Der Junge, immer noch fest schlafend, liegt abgewandt von ihm, seine Mütze unter der Wange. Seine eigenen Sachen sind feucht vom Tau. Er nickt wieder ein. Als er die Augen erneut öffnet, blickt die junge Frau auf ihn herunter. »Guten Morgen«, sagt sie. »Ich habe euch was zum Frühstück gebracht. Ich muss bald gehen. Wenn ihr fertig seid, lasse ich euch hinaus.«
    »Uns hinauslassen?«
    »Durch das Haus hinaus. Beeilt euch bitte. Vergesst nicht die Decke und das Handtuch mitzubringen.«
    Er weckt das Kind. »Komm«, sagt er, »Zeit zum Aufstehen. Zeit fürs Frühstück.«
    Sie pinkeln Seite an Seite in einer Ecke des Hofes.
    Das Frühstück ist, wie sich herausstellt, wieder Brot und Wasser. Das Kind rümpft die Nase; er selbst hat keinen Hunger. Er lässt das Tablett unberührt auf der Stufe stehen. »Wir können jetzt gehen«, ruft er.
    Die junge Frau führt sie durch das Haus auf die leere Straße hinaus. »Auf Wiedersehen«, sagt sie. »Sie können heute Abend wiederkommen, wenn es nötig ist.«
    »Was ist mit dem Zimmer im Zentrum, das Sie uns versprochen haben?«
    »Wenn man den Schlüssel nicht finden sollte oder das Zimmer in der Zwischenzeit vergeben wurde, können Sie wieder hier schlafen. Auf Wiedersehen.«
    »Einen Moment bitte. Können Sie uns mit etwas Geld aushelfen?« Bisher musste er nicht betteln, aber er weiß nicht, an wen er sich sonst wenden soll.
    »Ich habe gesagt, dass ich Ihnen helfen werde, ich habe nicht gesagt, dass ich Sie mit Geld versorgen werde. Dafür müssen Sie in die Büros der
Asistencia Social
gehen. Sie können mit dem Bus in die Stadt fahren. Nehmen Sie auf jeden Fall Ihren Ausweis und Ihren Aufenthaltsnachweis mit. Dann können Sie Ihre Umsiedlungsbeihilfe einlösen. Sie können sich aber auch eine Arbeit suchen und um einen Vorschuss bitten. Ich werde heute Vormittag nicht im Zentrum sein, ich muss zu Sitzungen, aber wenn Sie hingehen und sagen, dass Sie Arbeit suchen und
un vale
wollen, werden sie wissen, was Sie meinen.
Un vale
. Jetzt muss ich mich wirklich beeilen.«
    Der Pfad, auf dem er und der Junge durch die menschenleere Parklandschaft gehen, erweist sich als der falsche; als sie endlich beim Zentrum ankommen, steht die Sonne schon hoch am Himmel. Hinter dem
Trabajos
-Schalter sitzt eine Frau mittleren Alters mit strengem Gesicht und über den Ohren nach hinten frisiertem, straff zusammengebundenem Haar.
    »Guten Morgen«, sagt er. »Wir haben uns gestern angemeldet. Wir sind Neuankömmlinge und ich suche Arbeit. Ich habe gehört, Sie können mir
un vale
geben.«
    »Vale de trabajo«
, sagt die Frau. »Zeigen Sie mir Ihren Ausweis.«
    Er reicht ihr seinen Ausweis. Sie prüft ihn, gibt ihn zurück. »Ich stelle Ihnen ein
vale
aus, aber was die Art der Arbeit angeht, die Sie machen wollen, da müssen Sie sich schon selbst entscheiden.«
    »Können Sie mir einen Tipp geben, wo ich anfangen sollte? Das ist alles neu für mich.«
    »Versuchen Sie es im Hafen«, sagt die Frau. »Dort brauchen sie gewöhnlich Arbeiter. Nehmen Sie den Bus Nr. 29 . Er fährt alle halbe Stunde vor dem Haupttor ab.«
    »Ich habe kein Geld für Busse. Ich habe überhaupt kein Geld.«
    »Der Bus ist umsonst. Alle Busse sind umsonst.«
    »Und eine Unterkunft? Darf ich die Frage einer Unterkunft ansprechen? Die junge Dame, die gestern Dienst hatte, sie heißt Ana, hat ein Zimmer für uns reserviert, aber wir konnten nicht hinein.«
    »Es gibt keine freien Zimmer.«
    »Gestern war ein Zimmer frei, Zimmer C - 55 , aber der Schlüssel war nicht da. Señora Weiss hatte ihn bei sich.«
    »Davon weiß ich nichts. Kommen Sie heute Nachmittag

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