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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Weg dorthin zu seinem Nachtlager. »Marcus«, flehte sie. Anscheinend war sie den Tränen nahe. Er war bereits im Begriff, die Männerunterkünfte zu betreten, da eilte sie zu ihm hin und erreichte ihn, als er gerade durch die Tür verschwand.
    Mehr musste ich nicht sehen. Mir war klar, dass sie einen Vorwand finden würde, um im Hof herumzulungern, vielleicht, um die Ochsen zu streicheln und zu tätscheln, ihnen Feigen zu geben oder um so zu tun, als würde sie sie pflegen, was durchaus nötig war. Sie würde dort auf ihn warten. Ich wusste, dass er am Abend mit den anderen Jungen durch die Straßen ziehen und sich amüsieren wollte – er war nicht oft hier im Haus, mitten in Rom. Aber ich wusste auch, dass die beiden die Nacht zusammen verbringen würden, ob er wollte oder nicht.
    Mir scheint, dass in dieser kleinen Szene eine Wahrheit über die Beziehung zwischen Männern und Frauen liegt.
    Wenn ich das Leben im Haus beobachtete und etwas so Aufschlussreiches sah, fühlte ich mich oft genötigt, in jenes Zimmer zu gehen, wo er aufbewahrt wurde, jener große Packen Material, an dem ich arbeiten sollte. Ich besaß ihn nun schon seit Jahren. Andere vor mir hatten gesagt, dass sie versuchen würden, daraus etwas zu machen.
    Worum es sich handelte? Um einen Berg von Material, das sich über Ewigkeiten angesammelt und seinen Anfang in der mündlichen Überlieferung hatte, wobei vieles sich ähnelte, aber erst später aufgeschrieben worden war. Doch alles Material bezog sich in irgendeiner Weise auf die frühesten Aufzeichnungen, die es über uns, die Völker unserer Erde, gab.
    Es war eine unhandliche, unüberschaubare Ansammlung, an der mehr als ein hoffnungsvoller Historiker gescheitert war, was weniger an den darin enthaltenen Problemen lag, als vielmehr in der Natur der Sache. Wer immer an diesem Material arbeitete, musste damit rechnen, dass man es anfechten, infrage stellen und vielleicht als unecht verunglimpfen würde, sollte es je den Grad an Vollständigkeit erreichen, dass man es benennen und als Ergebnis der Wissenschaft veröffentlichen konnte.
    Ich bin nicht der Mensch, der Streitereien unter Gelehrten genießt. Was für ein Mann ich bin, spielt in dieser Debatte im Grunde gar keine Rolle – es hat bereits Dispute darüber gegeben, ob man diesem Bericht überhaupt eine Existenz außerhalb der staubigen Regale zugestehen soll, in denen er bislang aufbewahrt wurde. Immer wieder gab es Zeiten, in denen
Die Kluft
 – der Titel stammt nicht von mir – als dermaßen aufrührerisch galt, dass der Bericht bei den »streng geheimen« Dokumenten lag.
    Wie gesagt, meine Erzählung der historischen Vorgänge beruht auf uralten Dokumenten, die ihrerseits auf noch älteren mündlichen Berichten beruhen. Manche Ereignisse in diesen Berichten sind so haarsträubend, dass sich gewisse Leute möglicherweise darüber aufregen werden. Ich habe die Wirkung ausgewählter Teile der Chronik an meiner Schwester Marcella ausprobiert, und sie war schockiert. Sie konnte nicht glauben, dass anständige weibliche Wesen süße kleine Jungen so schlecht behandelt haben sollen. Meine Schwester nimmt immer gern die zarteren weiblichen Attribute für sich in Anspruch – ich denke, das ist kein ungewöhnlicher Charakterzug. Doch ich habe sie daran erinnert, dass man sich nicht ohne Weiteres von ihrer weiblichen Empfindsamkeit überzeugen lässt, wenn man sie aus vollem Hals schreien sieht, sobald in der Arena Blut fließt. Empfindliche Gemüter können auf Seite 35 mit der Lektüre beginnen.
    Was nun folgt, ist nicht der früheste Teil der Historie, den wir besitzen, doch ich setze ihn an den Anfang, weil er so aufschlussreich ist.
     
    Ja, ich weiß, das sagst du ständig, doch du verstehst einfach nicht, dass das, was ich jetzt sage, gar nicht wahr sein kann, weil ich dir erzähle, wie ich es heute sehe, wo doch damals alles ganz anders war. Selbst die Worte, die ich benutze, sind neu, wo sie herkommen, weiß ich nicht, und manchmal scheint es, als wären fast alle Worte, die wir in den Mund nehmen, genauso neu. Ich sage ich und noch einmal ich, ich tue dies und ich denke das, aber
damals
hieß es nicht ich, es hieß wir. Wir dachten wir.
    Ich sage
dachten
, aber dachten wir? Vielleicht fing, wie alles andere auch, eine neue Art des Denkens an, als die ersten Ungeheuer geboren wurden. Es tut mir leid, aber du redest dauernd von der Wahrheit, du willst die Wahrheit, und so sahen wir euch nun einmal zu Anfang, euch alle. Als

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