Das Amulett der Seelentropfen (Seelenseher-Trilogie) (German Edition)
Ein ganz unnormaler Tag
Ich dachte es wäre ein Tag wie jeder andere. Zumindest so wie die Tage waren, nun, da der Zirkel der Seelensammler Alanien beherrschte. Die Menschen wachten mit Angst auf und schlugen sich mit eben dieser durch den Tag, bis sie sich für wenige Stunden in den Frieden des Schlafes flüchten konnten. Aber selbst das bot keine Sicherheit mehr. Mit der Zunahme an Macht waren die Anhänger des Zirkels immer skrupelloser geworden. Sie stürmten in Häuser und trennten unschuldige Seelen von ihren Körpern. Bis jetzt war das alles für mich wie ein weit entfernter Traum gewesen. Wie etwas, das auf der Welt passierte, aber mich nicht direkt betraf. Alanien war ein Land, das aus dem Gedächtnis der Welt verschwunden war. Es lag zwischen der Schweiz und Italien. Doch niemand außerhalb seiner Grenzen konnte sich an seine Existenz erinnern und so wurde es einfach als ein Teil Italiens angesehen, der unbewohnt und von Bergen eingekeilt war.
Ich lebte seit Jahren alleine in dem großen Anwesen, das zusammen mit einem Ford Mustang GT das Einzige war, was mir von meinem Vater hinterlassen wurde. Ich kannte weder ihn noch meine Mutter. Alles, was ich an Familie kennenlernte, war mein Großvater. Aber auch er verließ mich schneller, als ich Erinnerungen an ihn sammeln konnte. Als er verschwand, war ich gerade neun. Seitdem sind zehn Jahre vergangen. Zehn Jahre, in denen meine einzige Familie meine Freundin Keira war. Sie war es, die aus diesem gewöhnlichen Tag einen Tag machte, der nicht nur mein Leben verändern sollte. Ich ahnte nicht, was Keiras Familie in der Nacht zuvor widerfahren war. Wie so oft – wenn Keiras Vater sie nicht gerade auf der Arbeit brauchte – liefen wir in Richtung der bodenlosen Schlucht. Die Unendliche Schlucht, wie sie die Anwohner Amalens nannten. Sie hatte auf Keira und mich schon immer eine gewisse Anziehung gehabt. Die Landschaft um die Schlucht herum war eigentlich nichts Besonderes. Hier und dort wuchsen Büsche und einzelne kleine Pflanzen. Ab und zu ragte ein krummer Baum aus dem trockenen, sandfarbigen Boden. Sonst war nichts weiter zu sehen außer kleinen Hügeln, auf denen spindeldürres, fast schon totes Gras wuchs, das nicht einen Schimmer von Grün aufwies. Dennoch kamen wir fast jeden Tag an diesen Ort zurück. So auch an diesem. Die Sonne stand weit am Himmel und ein trockener, aber doch angenehmer Wind wehte über die Schlucht zu uns herüber. Keiras schlanke Gestalt – sie war fast einen Kopf größer als ich - ging gebeugter als sonst. Ihre welligen Haare, die sie normalerweise in gut gestylten Frisuren trug, waren leicht zerzaust und in einem schnellen Zopf im Nacken zusammengebunden. Sie trug die selben Kleider, die sie auch am Tag zuvor anhatte. Eine ältere Jeans, die hier und dort zerrissen war und dazu ein einfaches Oberteil. Hätte ich nicht schon aus ihrem Verhalten und ihrem Aussehen geschlossen, dass etwas ganz und gar nicht stimmte, hätte ein Blick in ihre braun-grünen Augen mich spätestens darauf gebracht. Der fröhliche Ausdruck, in dem man jedes Lächeln sehen konnte, war verschwunden. An seiner Stelle stand ein gequälter, trauriger Blick, der mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. In diesem Moment kam mir meine Freundin völlig fremd vor. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, aber ich wusste auch, dass sie von alleine anfangen würde zu reden, wenn sie es denn wollte. Gerade als wir an die Stelle kamen, an der wir uns vor zehn Jahren kennenlernten, blieb Keira stehen. Ich erkannte den Ort sofort. Es war der Ort, zu dem ich immer flüchtete, wenn mich etwas bedrückte oder meine Gedanken wieder einmal einen einsamen Ort brauchten. Ich hatte mich hierher zurückgezogen an dem Tag, an dem mir klar wurde, dass auch mein letzter Verwandter mein Leben für immer verlassen hatte und niemand mehr da war außer mir selbst. Es war ein winziges Tal, das kurz vor der Kante der Schlucht von vielen kleinen Hügeln umgeben war. Man konnte es nur durch einen verborgenen Pfad erreichen. Es war der grünste Punkt, den es rund um Amalen gab ,und außer mir und Keira kannte ihn niemand. Hierher hatte sie mich stillschweigend geführt. Es war offensichtlich, dass sie nicht mehr viel länger zurückhalten konnte, was sie beschäftigte. Das Gras raschelte leise, als sich Keira erst auf die Knie sinken ließ, schließlich schwer atmend auf den Rücken lag und in die Sonne starrte. Mit jeder Minute war ich unruhiger geworden. Ich ertrug ihren
Weitere Kostenlose Bücher