Die Kluft: Roman (German Edition)

Grund. Wer mit ihm in Berührung kommt, stirbt. In der Kluft gab es ebenfalls giftige Gase, und doch ist durch die Freisetzung des weißlichen Pulvers niemand ums Leben gekommen. Obwohl die Kluft ziemlich nah an der Küste lag, wo Frauen und Kinder lebten. Schon das wirft einige Fragen auf. Anscheinend gibt es einiges, das wir nicht wissen, auch wenn wir Römer uns gerne benehmen, als wüssten wir alles. Plinius, mein alter Freund, hat immer nach Wissen gestrebt – und ist für seine Bemühungen gestorben. Ein paar Tage lang schlugen an der Küste der Frauen mit Knochenstaub überkrustete Wellen an die Felsen, wo daraufhin eine feste Patina entstand, die sich nie wieder auflöste, wie es in den Aufzeichnungen heißt. Und ein Stück weiter die Küste entlang war das Meer blau und sauber. Eine ziemlich belanglose Angelegenheit, die Zerstörung der Kluft – und doch lässt sie Fragen offen, die auf ihre Art so schwer zu beantworten sind wie jene, die der große Vulkan aufgeworfen hat, der wahrscheinlich eines Tages wieder ausbrechen wird.
    Die weißen Felsen in der Nähe der Kluft sahen aus wie mit Vogelkot überzogen, und nun kommt mir die Frage in den Sinn, ob sich durch aufmerksames Suchen an den Küsten sämtlicher Inseln in unserem Meer vielleicht Felsen finden lassen, die einmal weiß gewesen sind und bei denen wir uns darauf verständigen könnten, dass sich dort jene alte Geschichte zugetragen hat, die Geschichte der Spalten und der Ungeheuer. Doch wie uns der Ausbruch des Vesuv gezeigt hat, können wir nicht davon ausgehen, dass die Küstenlinien von Inseln oder sogar die Inseln selbst für immer unverändert bleiben. Und angenommen, wir würden beschließen, dass bestimmte gebleichte Felsen diejenigen sind, nach denen wir gesucht haben – es wäre nur von ideellem Interesse. Diese Historiker, die sich selbst so nannten, weil sie ihrem eigenen Verständnis nach aufzeichneten, was sich vor sehr langer Zeit zugetragen hatte, schrieben in ihren Dörfern im Wald Chroniken jener Ereignisse, die damit endeten, dass die Kluft explodierte. (Dörfer – wie viele? Wo? Mit wie vielen Einwohnern?) Die Historiker der Dörfer haben mit Kohlestiften auf die Innenseite von Rinde geschrieben. Ihre Geschichten wurden nicht mehr in aufmerksame Ohren gesagt. Von den alten Aufzeichnungen auf Rinde ist nichts erhalten, wohl aber das, was dem folgte: Schilfrollen mit Zeichen darauf, wenn auch nur wenige. Die Explosion der Kluft stellt nicht nur das Ende eines Berichts dar, sondern auch den Anfang des nächsten. In diesem Punkt waren sich Historiker einig, die Ewigkeiten vor mir geschrieben haben – und wir wollen es dabei belassen.

Über Doris Lessing
    Doris Lessing wurde 1919 in Persien geboren und wuchs auf einer Farm im damaligen Südrhodesien auf. Mit dreißig Jahren kam sie nach London und veröffentlichte dort 1950 ihren ersten Roman. Ihr umfangreiches literarisches Werk macht sie zu einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autorinnen. Im Hoffmann und Campe Verlag erschienen seit 1988 zahlreiche Werke, zuletzt ihre Romane
Die Kluft (
2007 ) und
Alfred und Emily
( 2008 ) sowie im Rahmen der Werkauswahl fünfzehn Titel, darunter
Das goldene Notizbuch, Unter der Haut, Das fünfte Kind
und zwei Erzählungsbände. Doris Lessing wurde 2007 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

Impressum
    Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »The Cleft« im Verlag Fourth Estate/HarperCollins, London.
    Der Auszug aus dem Theaterstück von James Elroy Flecker stammt aus:
    James Elroy Flecker,
Hassan.
Ein Schauspiel. Deutsch von Ernst W. Freißler und Herbert Alberti, Verlag Albert Langen, München 1914 .
     
    Copyright © 2007 by Doris Lessing
    Für die deutschsprachige Ausgabe
    Copyright © 2007 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
    Covergestaltung: Steigenberger Grafikdesign, München
    Illustration: www.neubauberlin.com
    ISBN 978-3-455-81212-1
     
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