Die Kreuzzüge
durch die mittelalterlichen Kreuzfahrer und die neuzeitlichen Übergriffe des Westens auszubuchstabieren – ein Vergleich, der bekanntlich im Westen bereits seit Jahrzehnten en vogue war. Die zunehmende Faszination, die von Saladin als heroischer muslimischer Galionsfigur ausging, kam auch bei der Eröffnung einer neuen Universität in Jerusalem im Jahr 1915 zum Ausdruck, die nach dem Sultan benannt wurde. Diese beiden parallelen Entwicklungen wurden durch Ereignisse im zu Ende gehenden Ersten Weltkrieg beschleunigt: die Übertragung von Völkerbundsmandaten in der Levante an Großbritannien und Frankreich; die ausführliche Berichterstattung zu Allenbys angeblicher Erwähnung der Kreuzzüge und die in Europa allseits ausgiebig genutzte Methode eines historischen Parallelismus. 1934 sah sich ein prominenter arabischer Autor zu der Äußerung veranlasst, dass »der Westen unter dem Mantel eines politischen und wirtschaftlichen Imperialismus immer noch Kreuzzugskriege gegen den Islam führt«.
Ein kritischer Umschlagpunkt war dann nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 erreicht – der Umsetzung des Zionismus in die Realität. Im Oktober dieses Jahres schrieb der Kommentator Abd al-Latif Hamza, dass »der Kampf gegen die Zionisten in unseren Herzen die Erinnerung an die Kreuzzüge wieder wachgerufen hat«. Seit 1948 engagierte sich die muslimische Welt dann in einer immer intensiveren Auseinandersetzung mit den Kriegen um das Heilige Land im Mittelalter. Die arabisch-islamische Kultur pflegte schon seit langem, seit dem Hochmittelalter und davor, Fragen an die eigene Vergangenheit zu stellen. Es kann daher nicht überraschen, dass im gesamten Nahen Osten Gelehrte, Theologen und radikale Aktivisten nun ihre eigenen historischen Parallelen zogen und die Geschichte der Kreuzzüge für ihre Zwecke umschrieben. 14
[724] Die Prinzipien des »Kreuzzugsparallelismus«
Dieser Prozess einer historischen Annäherung ist bis heute nicht abgeschlossen. Die Epoche der Kreuzzüge war und ist für die Bedürfnisse von islamistischen Propagandisten außerordentlich einladend. Bereits vor nahezu 800 Jahren war sie zu Ende; die Ereignisse dieser Ära sind also mittlerweile so verschwommen, dass sie ohne weiteres umgeformt und manipuliert werden können: Man kann die nützlichen »Fakten« auswählen; und genauso leicht können unbequeme Details aussortiert werden, die nicht mit der jeweiligen Ideologie zusammenpassen. Man kann aus den Kreuzzügen auch eine nützliche didaktische Erzählung konstruieren, enthalten sie doch beides: sowohl den Angriff des »Westens« als auch dann später den Sieg des Islams. Eine entscheidende Rolle spielt Jerusalem. Tatsächlich war die politische und religiöse Bedeutung, die die Muslime der Heiligen Stadt zumaßen, im Lauf des Mittelalters und auch in späteren Jahrhunderten ständig größeren Schwankungen unterworfen. Der Kampf um die Herrschaft über diese Stadt jedoch, der im Mittelalter ausgetragen wurde, ermöglicht es den Ideologen der Moderne, eine Vision von Jerusalem, allem voran des Haram as-Sharif , des Tempelbergs, zu entwerfen, in der der Ort zur allzeit heiligen und unantastbaren Hochburg des muslimischen Glaubens erklärt wird.
In den vergangenen 60 Jahren haben zahlreiche islamische Gruppen und Einzelpersonen, von Politikern bis hin zu Terroristen, Vergleiche zwischen der modernen Welt und den mittelalterlichen Kreuzzügen angestellt. Es gibt in den von ihnen propagierten Botschaften und Vorstellungen zahlreiche Unterschiede hinsichtlich der Details und der Gewichtungen, aber man kann auch eine relativ durchgängige Substruktur erkennen, die sämtlichen Argumenten zugrunde liegt, und diese Struktur stützt sich vor allem auf zwei Ideen. Da ist zunächst der Westen als einbrechende Kolonialmacht, der sich – genau wie vor 900 Jahren – verbrecherischer Handlungen gegen die Muslime schuldig macht; die mittelalterlichen Kreuzzüge werden in der modernen Welt re-inszeniert. Allerdings wurde mit der vom Westen unterstützten Gründung des Staates Israel ein neues Handlungselement in die Geschichte integriert. In der aktuellen Fassung dieses Kampfes sind es nicht nur die imperialistischen Kreuzfahrer, sondern auch die Juden, die das Heilige Land in Besitz nehmen wollen. Beide werden zusammengefasst in der gegen den [725] Islam gerichteten sogenannten Kreuzfahrer-Zionisten-Allianz. Dieser befremdlichen Kombination versuchen Propagandisten eine
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