Die Kreuzzüge
den Fakten orientierte Betrachtungsweise durch. Doch noch in den 1930er-Jahren stellte der französische Kreuzzugshistoriker René Grousset Vergleiche zwischen Frankreichs Beteiligung an den Kreuzzügen und der Rückkehr Frankreichs an die Macht in Syrien im frühen 20. Jahrhundert an. Und es waren natürlich die eher passionierten, unsachlichen Darstellungen, die die Wahrnehmung der breiteren Öffentlichkeit am meisten beeinflussten. Die Macht und die potentiellen Gefahren dieses oberflächlichen modernen Parallelismus wurden im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg offensichtlich. Während dieses europäischen Flächenbrands erhielt Frankreich vom Völkerbund den Auftrag, »Groß-Syrien« zu regieren – und französische Diplomaten bekräftigten die Ansprüche ihrer Nation auf dieses Territorium, indem sie auf die Geschichte der Kreuzzüge zurückgriffen.
Großbritannien wurde gleichzeitig mit der Verwaltung Palästinas beauftragt. Als General Edmund Allenby im Dezember 1917 in Jerusalem eintraf, war er sich offenbar (nicht zuletzt auch, weil muslimische Truppen in der britischen Armee kämpften) im Klaren darüber, welch einen Affront es für den Islam bedeuten musste, wenn er auf die Rhetorik oder den Triumphalismus der Kreuzfahrer zurückgriff. In markantem Kontrast zu Kaiser Wilhelm betrat Allenby die Heilige Stadt zu Fuß, und er soll außerdem den strikten Befehl erlassen haben, dass seine Untergebenen [722] sich sämtlicher Anspielungen auf die Kreuzzüge enthielten. Fatalerweise konnte er mit seiner Behutsamkeit nicht verhindern, dass Teile der britischen Presse in der medialen Aufbereitung der Ereignisse schwelgten. Die satirische Zeitschrift Punch veröffentlichte unter der Überschrift »Der letzte Kreuzzug« eine Karikatur, auf der Richard Löwenherz von einem Berg aus auf Jerusalem herabschaut; die Bildunterschrift lautet: »Endlich ist mein Traum in Erfüllung gegangen.« Später kam ein unbestätigtes, allerdings hartnäckiges Gerücht auf, nach dem Allenby selbst verkündet haben soll: »Heute sind die Kreuzzüge beendet.«
Tatsächlich löste sich damals in der englischen Sprache der Begriff »Kreuzzug«, der bereits aus dem religiösen Kontext herausgetreten war, allmählich auch von seinen mittelalterlichen Wurzeln. 1915 beschrieb der britische Premierminister David Lloyd George in einer Rede den Ersten Weltkrieg als »großen Kreuzzug«. Im Zweiten Weltkrieg tauchte im Tagesbefehl General Eisenhowers für die Truppen der Alliierten am D-Day, dem 6. Juni 1944, die Ermahnung auf: »Ihr seid im Begriff, zu einem großen Kreuzzug aufzubrechen.« Eisenhowers Resümee des Krieges aus dem Jahr 1948 trug den Titel Kreuzzug in Europa . 12
Der moderne Islam und die Kreuzzüge
Nach einer langen Periode der Gleichgültigkeit kamen in der muslimischen Welt in der Mitte des 19. Jahrhunderts erste Anzeichen von Interesse an den Kreuzzügen auf. Um 1865 erschien in der Übersetzung französischer Geschichtswerke durch arabisch sprechende syrische Christen erstmals der Begriff al-hurub al-Salabiyya (die »Kreuz-Kriege«) für die Ereignisse, die bislang als die Kriege der Ifranji (der Franken) bezeichnet worden waren. 1872 verfasste der Türke Namik Kemal die erste »moderne« muslimische Biographie Saladins – offenbar angelegt als Gegendarstellung zu Michauds Kreuzzugsgeschichte, die kurz zuvor ins Türkische übersetzt worden war. Der Besuch Kaiser Wilhelms II. 1898 fiel entweder mit einer weiteren Welle öffentlichen Interesses zusammen, oder er löste diese aus: Im Jahr danach stellte der ägyptische Historiker Sayyid Ali al-Hariri die erste arabische Geschichte der Kreuzzüge zusammen, sie trug den Titel Ausgezeichnete Darstellungen der Kreuzfahrer-Kriege . Darin berichtet al-Hariri, dass Sultan Abdülhamid II. (1876 – 1909) erst kürzlich die Okkupation von muslimischem Territorium durch den Westen als neuen [723] »Kreuzzug« bezeichnet habe, was al-Hariri mit den Worten kommentiert: Der Sultan »bemerkte zu Recht, dass Europa nun gegen uns einen Kreuzzug in Form einer politischen Kampagne durchführt«. Ungefähr gleichzeitig stellte der muslimische Dichter Ahmad Shaqwi in einem Gedicht die Frage, warum Saladin in den Jahrhunderten, bevor Kaiser Wilhelm die Aufmerksamkeit wieder auf ihn gelenkt hatte, im Islam so vollkommen in Vergessenheit geraten war. 13
In den nun folgenden Jahren begannen die Muslime von Indien bis in die Türkei und die Levante die Ähnlichkeiten zwischen der Besatzung
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