Die Kunst des guten Beendens
dass sie auch großzügig werden wolle. Das versuche sie jetzt immer wieder, noch immer mit der kleinen Kelle, aber zunehmend mit Lust. Und mit Freude an sich selbst. Es tue ihr im Herzen gut, wenn sie jemand gegenüber generös sein könne, in Freude eine großzügige Geste vollbringe, etwas weggebe, verschenke – liebevoll, nicht berechnend, nichts erwartend. Und übrigens habe sie ihren Hausrat samt Büchern und Kleidern um fast die Hälfte reduziert und es fehle ihr nichts.
Das Beenden alter, beengender, überholungs- und erweiterungsbedürftiger Gewohnheiten setzt menschliche Freiheitvoraus und erschafft sie gleichzeitig. Das ist wohl die Quintessenz der Kunst des Beendens, um in der eigenen Entwicklung einen Schritt weiter zu gehen. Das Herz sagt immer ja; das Herz will Wachstum und Entwicklung ermöglichen – bis zum endgültigen Beenden. Der Zauber des Beendens liegt dann auch darin, dass überholte bzw. wiederkommende Phasen des Beendens – vom ersten Schrecken über Widerstand und Verleugnung, über Zorn und Wut, Abschied und Trauer, Erleichterung und Entwicklung – innerlich und äußerlich zu einer Integration kommen dürfen: immer wieder, ein Leben lang.
Es ist immer wieder ein kleines Wunder. Und danach beginnt etwas Neues.
Das innere Vollenden wagen
Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut, ein jedes Werden stand still.
Rainer Maria Rilke
Beenden hat eine äußere und eine innere Seite. Beide sind miteinander verknüpft. Wenn ein Mensch sich von einem anderen Menschen trennt bzw. trennen muss, wenn ein Arbeits- oder Besitzverhältnis beendet wird, dann erfordert das auf der Realitätsebene ein äußeres Beenden. Das kann je nach frühen und späteren Bindungs- und Trennungserfahrungen mehr oder weniger dramatisch verlaufen. Es ist in jedem Fall eine herausfordernde Aufgabe. Und jedes Beenden im Leben verändert den betreffenden Menschen und fügt zur bisherigen Bindungs- und Trennungsbiographie eine weitere Erfahrung hinzu. So wie man nicht zweimal in denselben Fluss steigt, so verlässt man eine Erfahrung des Beendens als ein anderer Mensch als zuvor. Die eigene Identität konstituiert sich nicht zuletzt auch als eine des Beginnens und Beendens. Es sind oft Jahre nötig, bis sich ein Mensch zu einem sein Leben verändernden Schritt durchringen kann.
Es sind erschwerende Umstände des Beendens, wenn es nicht aus freiem Willen, sondern unter Zeitdruck, unter äußerem Druck und Zwang und im Konflikt zu geschehen hat. Schock und Versteinerung können einen Menschen lange Zeit von einem Akt des Beendens abhalten und gar zurückschrecken lassen. Beenden hat mit der Fähigkeit zu tun, die Realität nicht aus den Augen zu verlieren und das anzuerkennen, was ist: dass ein Partner weggegangen ist, dass sich eine Freundschaft überlebt hat, dass die Kinder jetzt ihr eigenes Leben gestalten, dass die Altersgrenze zur Pension erreicht ist und dass ein großes, schönes Haus nicht mehr unterhalten und finanziert werden kann. Das sind schmerzliche Einsichten. Wer die Realität gelten lassen kann, hat es leichter, einen Abschied und eine Trennung zu verkraften. Vorwürfe bedeuten immer ein Scheitern am Anerkennen der Wirklichkeit und haben somit mit der Verleugnung der Realität zu tun. Es wird ein Sündenbock gesucht, um selbst nicht trauern zu müssen. Auch eine Depression kann als Vermeidung von Trauer betrachtet werden. Durch Trauer stimmt sich ein Mensch in die Realität ein, auch wenn Phasen des Verleugnens und Haderns durchaus zum Trauerprozess gehören. Trauer ermöglicht die Integration des Beendens ins eigene Leben, das sich dadurch verändert hat. Damit sind wir bei der inneren Dimension des Beendens.
Beenden ist größtenteils ein innerer Prozess. Es kann ein sehr leidvoller Prozess sein, muss es aber nicht. Es kann auch eine von Wehmut begleitete Erleichterung sein. Wenn ein Mensch schmerzvoll, jedoch freiwillig etwas beendet, kann er vielleicht sagen: Es ist genug, es ist gut so, es ist vollendet und vollbracht. Im nicht selbstgewählten, unfreiwilligen Fall ist der Weg zur Bejahung länger und schmerzvoller. Ein inneres Vollenden eines Prozesses hat vorab mit Liebe und Vertrauen zu sich selbst und zum Leben zu tun. Und damit, frei zu werden und frei zu sein von Verstrickungen und Abhängigkeiten. Immer wieder achtsam und liebevoll beginnen und beenden zu können. Die Schritte tun, die anstehen.
Im Begriff des Vollendens ist auch das Wort »Ende« enthalten. Zudem das der Fülle, des
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