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Mein Leben im Schrebergarten

Mein Leben im Schrebergarten

Titel: Mein Leben im Schrebergarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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1 - Parzelle 118 oder Die Russen kommen
     
     
    Es mag banal klingen, ist aber wahr: Unser wertvollstes Gut sind unsere Erinnerungen. Ohne sie sind wir bloß Gemüse, unfähig zu denken und zu handeln. Der größte Traum jedes vernünftigen Menschen ist es doch, zweimal in denselben Fluss zu steigen, auf die gleiche Harke zu treten, in der gleichen Pfütze zu landen. Wer das nicht tut und nur darüber sinniert, wie sinnlos beziehungsweise unmöglich es ist, sich einem solchen kindischen Traum hinzugeben, ist ein Angsthase.
    Doch viele Erinnerungen verblassen mit der Zeit, und die nächste Generation zweifelt sie an oder lacht sogar über sie. Um ihnen mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, braucht man handfeste Beweise, am besten Fotos. Schwarz-weiß ist wunderbar, das macht sie realistisch. Meine Frau und ich haben sehr viele Fotos, die wir getrennt in speziell dafür ausgewählten großen Schuhkartons aufbewahren. Zu jedem Anlass, aber auch ohne, holen wir die Kartons heraus und zeigen uns gegenseitig unsere Bilder. Auf den meisten Fotos, die meiner Frau gehören, sieht man junge, frech gekleidete Langhaarige beiderlei Geschlechts mit Bierflaschen oder Musikinstrumenten in der Hand – alles Dichter, Maler oder Schauspieler. Mit einigen von ihnen hat Olga noch immer Kontakt, aber von den meisten sind Namen und Aufenthaltsorte im Laufe der Zeit verloren gegangen. Eine typische Jugend in der schnöseligen Boheme St. Petersburgs offenbart sich auf diesen Bildern.
    Einen anderen Eindruck hinterlassen Fotos, die im Haus ihrer Oma in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny geknipst wurden: ein Haus aus Stein, kaum zu sehen hinter den Bäumen und Büschen, drumherum Beete, Weinstöcke, die sich aus der Erde ranken, und Menschen mit bronzener Haut, die lächelnd ihre Harken, Sicheln und andere mir unbekannte landwirtschaftliche Werkzeuge in die Kamera halten. Olgas inzwischen verstorbene Oma ist auch dabei – eine kräftig gebaute alte Frau, stets mit einem weißen Tuch auf dem Kopf und einem Eimer Tomaten oder Kartoffeln in der Hand. Im kaukasischen Obstgarten, zwischen Kirsch- und Aprikosenbäumen, verlief ein beträchtlicher Teil der Kindheit und Jugend meiner Frau.
    Diese landwirtschaftliche Seite ihrer Biographie, die Erinnerungen an Omas Garten, ihre Wünsche und Träume, die mit diesen Erinnerungen verbunden sind, sowie meine absolute Unkenntnis in Sachen Gartenarbeit und mein grenzenloses Vertrauen in das wirtschaftliche Treiben meiner Frau innerhalb der Familie trugen dazu bei, dass wir uns eines Tages beim Bezirksverband der Kleingartenkolonie »Glückliche Hütten« anmeldeten. Unser Ziel war, einen Schrebergarten in der Nähe unseres Hauses zu ergattern. Alle Freunde und Bekannten, denen wir davon erzählten, lachten uns aus. Sie räumten uns keine Chance ein, in das letzte Bollwerk des deutschen Spießers, die Kleingartenkolonie, einzudringen.
    Die »Glücklichen Hütten« sahen wie eine gut geschützte Burg aus: Die Lauben waren mit hohen Zäunen und reichlich Stacheldraht gesichert, und große Hunde hielten in den Gärten Wache. Mit ein paar Kanonen auf den Dächern konnte diese Anlage problemlos gegen jede feindliche Armee der Welt bestehen. Von Weitem schienen die Gärten leer, doch wenn man sich einem Grundstück näherte und über den Zaun schaute, sah man sofort das Hinterteil des Besitzers über den Beeten schweben. Was sie da gerade machten, woran sie arbeiteten, war schwer zu begreifen. Sie krochen über ihre Erde, sie pflanzten ein, sie pflanzten aus, gruben, harkten, bewässerten ihren Rasen oder steckten einfach wie Strauße den Kopf in die Erde, wenn sie Fremde bemerkten. Wenn man über den Zaun grüßte, grüßten sie nicht zurück, als wollten sie sagen: Ihr werdet auf euren Platz an der Sonne in dieser Kolonie lange warten müssen, nämlich mein langes Leben lang. Denn alles, was ihr hier seht, jeden Millimeter Erde, haben wir mit Schweiß, Blut und Tränen begossen und zu dem gemacht, was es heute ist – ein Buddelkasten für Erwachsene, die mit ihrer Freizeit in der Großstadt nichts anfangen können.
    Ich fand diese Kleingärtnerhaltung stets lächerlich. In der Großstadt Moskau aufgewachsen, hatte ich nie die geringste Neigung zur Gartenarbeit verspürt. Auch die Vorstellung einer eigenen Ernte ließ mich kalt. Das Obst aus dem vietnamesischen Gemüseladen an der Ecke schmeckte mir gut genug. Meine Frau war aber anders gestrickt. Die Erinnerung an den ersten grünen Pfirsich, den sie

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